Weihnachten im Künstlerheim

Weihnachten im Künstlerheim
Sie waren durch viel Leid und Trübsal gegangen, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Trennungsschmerzen, Angst um geliebtes Leben, das im Kugelregen draußen stand - Krankheit und Not - alles war durch ihre Seelen gegangen, hatte sie kleinmütig und mutig, traurig und froh gefunden. Und nun waren sie vereinigt in schwer erkämpftem, ungetrübtem Glück. Es war ein schöne, kleines Künstlerheim, in dem ich mit ihnen den Weihnachtsbaum schmückte. Alter, wertvoller Hausrat aus Großvaters Zeiten füllten das Zimmer, und Blumen blühten an den Fenstern, trotz Schnee und Winterkälte draußen. Schöne Bilder von Künstlerhand schmückten die Wände, weiche Teppiche deckten den Fußboden, und im Nebenzimmer, in einem weißverhüllten Wägelchen, schlief der größte Stolz des Hauses, ein kleines Kind, nur wenige Monate alt. - Durch Jahre meines Lebens hatte ich schon zu ihr gehört, war durch Jahre schwersten Ringens auf ihrer Künstlerlaufbahn mit ihr gegangen, Schritt für Schritt, Schmerzen und Freuden mit ihr teilend. Sie war eine von den Berufenen, aber ihre Seele war zart und verletzlich, sie litt auf dem steinigen Pfad, der zur Höhe führte. Nun war sie glücklich an der Seite des geliebten Mannes, der auch Künstler war. Ich hatte mich aus der Ferne an ihrem Glück gefreut, und heute durfte ich Weihnachten mit ihnen feiern. Während wir den Baum schmückten, erzählten wir uns von all den Jahren, die wir getrennt gewesen waren. Er erzählte von Kriegsnot, von Weihnachtsfesten in den Unterständen, oft unter Kugelregen und Kanonendonner - sie von Weihnachtsfesten der Einsamkeit, voll Sehnsucht, voll geduldigen Wartens.
Ich schwieg und horchte auf die Erzählungen der beiden Glücklichen. Ich hatte aus der Heimat fliehen müssen, und das Heimweh verschloss mir die Lippen. Die beiden jungen Menschen, die immer wussten, was in meiner Seele vorging, spürten es auch dieses Mal und schwiegen.
Dann fing die junge Frau an zu erzählen von einem Weihnachtsfest, das sie in Livland auf dem Lande mit mir erlebt hatte. Sie nannte mein Heimatland seitdem nur "Die Seelenheimat". Sie spricht mit leiser Stimme, als sähe sie Bilder vor sich; und ein geliebtes Doktorhaus ersteht unter ihren Worten vor meine Blicken, hoch am Ufer der Düna gelegen. "Das Haus ist langgestreckt und schmal", erzählt sie, "Ställe, Wagenremise und sämtliche Wirtschaftsräume sind unter einem Dach. Man nennt es die "Arche". Unten im Garten fließt die Düna vorüber. Der Strom, der sonst so lebendig rauscht, liegt wie schlummernd unter seiner Schnee - und Eisdecke da. Im Hause aber waltet die Liebe. "Tante Ida" regiert das Haus mit warmer, liebevoller Hand; sie füllt es mit dieser Liebe, bis in jeden Winkel hinein spürt man sie. Wie viele Müde, Arme, Kranke , Gestrauchelte kommen im Laufe des Jahres in dieses Haus und holen sich Kraft aus dem großen Strom der Liebe, aus der mutigen Seele, die aus Tante Idas Augen spricht! Sie ist eine wunderschöne alte Freu mit herrlichen Blauaugen, grauem Haar und stolzen Zügen, als wäre sie aus königlichem Geblüt. Das Königliche aber hält nicht stand vor Leid und Krankheit; wo sie denen begegnet, da werden die stolzen Königsaugen weich, denn sie weiß zu trösten, "wie ein Mutter tröstet". Das Haus ist zu Weihnachten gefüllt: Kranke holen sich Kraft, Traurige Mut, Müde, Überarbeitete Ruhe und Frieden aus der Arche, aus den hellen, mutigen Mutteraugen Tante Idas. Es war ein so wunderbares Leben dort, und diese alles vergesse ich nie", schließ die junge Frau leise und schwieg dann. Der junge Hausherr horcht auf die fremde Welt, von der wir reden, die seinem Herzen doch so nahe ist. Und ich erzähle weiter: "Die Vorbereitungen zum Heiligabend sind alle gemacht. Wir haben den Weihnachtsbaum aus dem Walde geholt. Er füllt die ganze Mitte des Saales und ist wie ein Stück Wald, das ins Zimmer gekommen ist. Riesenschüsseln mit Gebäck werden von "Guscha", dem guten Geist des Hauses, aus der Küche getragen und auf den Tisch im Speisezimmer hingestellt. Guscha strahlt, ihr Gesicht ist vom Herdfeuer gerötet, sie ist dick und fröhlich, und ihr Herz kennt nur eine Freude: für andere Gutes tun und für sie arbeiten. - Die Bescherung

ist gewesen, das festliche Abendessen hat uns um den langen Speisetisch vereinigt. Wie schmeckte es allen! Wie froh waren alle! Nun sitzen wir um den Kamin, indem die riesengroßen Birkenscheide flammen. Wir plaudern, lachen und schweigen. Die Flamme des Kamins fällt auf die Gesichter. Da ist der Sohn des Hauses, eine schlanke, vornehme Erscheinung, um den feinen Mund ein etwas spöttisches Lächeln, das man zuerst ein wenig scheut, bis man weiß, dass dieses Lächeln nichts weiter ist als ein Schutz für sein allzu weiches Herz. Und da ist auch Ida, die Tochter des Hauses, sie ist herb und scheu, aber sie hat ein Herz voll unwandelbarer Treue. Sie ist wie Schön - Rotraut, die nicht spinnen noch nähen mag, tut fischen und jagen.
Man muss sie im Segelboot sehen, in Sturm und Wellen, mit ruhiger Hand das Steuer haltend. Wenn die Wellen über den Bootsrand schlagen, wenn der Mast sich ächzend biegt und zu brechen droht, dann lachen ihre ernsten Augen, und ein Jubelruf bricht aus ihrer verschlossenen Seele.
Eine seltsame Macht übt sie auf Tiere aus, dass es fast wie ein Zauber wirkt, und die wildesten Pferde werden zahm und gehorsam auf ihren leisen Zuruf. Zu ihren Füßen ruht eine riesige Dogge, die ihr immer zur Seite ist und auf jede Bewegung ihrer Herrin horcht. Der Duft des Tannenbaumes und der Wachslichter zieht durch alle Räume des Hauses, das so voller Tradition ist, füllt die niedrigen Zimmer mit altmodischen Möbeln, ihren Streckbalken an der Decke, den weißen Tannenfußböden und dem unaussprechlichen Behagen.
Da tritt Tante Ida unter uns: "Kinder kommt hinaus und seht, wie draußen die Sterne funkeln! So funkeln sie nur am Heiligabend, zu Ehren des Christkindleins." Wir gehen alle in den Garten, dicht eingehüllt in unsere Pelze. Es ist so kalt, dass man schwer atmet. Es ist ganz still, der Schnee leuchtet und knirscht unter unseren Schritten, die Sterne funkeln, und in der Ferne schlägt ein Hund an. Aus den Fenstern des langgestreckten Hauses fällt ein Lichtschein auf den Schnee - aus der Leutestube hört man das Gesinde singen - sie singen ein Weihnachtslied: "Stille Nacht, heilige Nacht."
Nun schweig auch ich. Alles, alles das ist einmal gewesen, ehe der Krieg kam, ehe die Revolution über und hereinbrach. Nie gibt es mehr ein Weihnachtsfest in der Arche. Tante Ida ist tot - ihre Kinder auch tot oder weit verstreut. Die alte Arche ist verschwunden, die Bäume im Garten sind gefällt - tiefe Gräben ziehen sich durch die Gartenwege und die Beete, und der Schneck deckt Trümmer zu. Keiner kann sich dort mehr Kraft für sein Leben holen, keiner Liebe erfahren. Ein Schluchzen dringt mir aus dem Herzen. -
Der Baum im Künstlerheim ist fertiggeschmückt. Die Lichter am Baum werden angezündet, der Hausherr öffnet den Flügel - wir singen Weihnachtslieder. Voll und reich klingen die herrlichen Stimmen der beiden Sänger durch den Raum. Der junge Künstler nimmt die Bibel und schlägt das Weihnachtsevangelium auf. Er liest mit tiefbewegter Stimme die Weihnachtsgeschichte. Neben dem Flügel steht der Kinderwagen, drin schlummert fest und süß das Kleine. Da tritt die junge Mutter an den Wagen und nimmt das schlummernde Kind in ihre Arme. Sie steht vor dem Weihnachtsbaum und hält es mit hocherhobenen Armen in den Strahl der Weihnachtskerzen. Da erwacht das Kleine und blickt mit hellen Augen in die Weihnachtslichter. Es ist ganz still; plötzlich hebt es seine Händchen, greift nach den hellen Flammen und lacht. Der Vater liest die Weihnachtsgeschichte zu Ende: "Und die Klarheit des Herrn umleuchtet sie."
Ist es nicht wie unsichtbares Flügelrauschen, das durch den Raum weht - ist es nicht wie ein heiliges Licht, das aus dem Antlitz der jungen Mutter strahlt?
Ich sah sie oft auf dem Konzertpodium, strahlend schön, umrauscht vom Beifall der Menge, erfüllt, begeistert und getragen von ihrer künstlerischen Aufgabe. Nie aber sah ich dieses Licht in ihren Augen, nie sah ich diese stille Klarheit in ihren Zügen wie eben, da sie ihr kleines Kind in hocherhobenen Armen, wie ein Opfer, in das Licht der Weihnachtskerzen hielt.

Autor: Monika Hunnius

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