Weihnachtsgeschichten zum Nachdenken
Obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, ist Weihnachten im sogenannten Westen jedes Jahr auf's Neue präsent und allgegenwärtig. Das liegt mit Sicherheit am warmherzigen christlichen Charakter des Festes an sich. Aber gerade die Nächstenliebe, die bei vielen Menschen in der Weihnachtszeit deutlicher hervorkommt, stimmt nachdenklich.
Warum bringt man seiner Familie, den Freunden und allen anderen Mitmenschen nicht das ganze Jahr über Liebe und Rücksicht entgegen? Gerade an Weihnachten beginnen viele Erwachsene erst an die zu denken, die es nicht so gut haben, wie man selbst. Ja, in dieser besinnlichen Zeit ist man einander einfach näher als sonst. Die Hektik des Alltags und die Anforderungen des Lebens rücken für einen Moment ein Stück weit nach hinten.
Es entsteht Ruhe und Raum zur Besinnung auf die wichtigen Dinge im Leben. Das macht diese Festlichkeit, derer sich viele erfreuen, aus.
Nimmt man den christlichen Glauben ernst, so erfreut man sich zu Weihnachten über die Geburt Christi und der Tatsache, dass der "Retter" in die Welt geboren wurde. Gott wurde klein und zerbrechlich, wie ein Baby, um bei seinen Menschen zu sein.
Geschichten können Menschen so viele Impulse geben und sie zum Nachdenken anregen. Das versuchen auch die Werke auf dieser Seite. Ob sie Euch erreichen steht in den Sternen. Aber schon allein die Tatsache, dass Ihr diesen Text gerade lest ist aller Ehren wert.
Tiefgang und Besinnung sind wesentliche Aspekte der nachfolgenden Geschichten. Lasst sie auf Euch wirken. Laute und stille Fragen werden vielleicht beim Lesen aufkommen. Und das ist auch gut so - weil gewollt!
Weihnachtsgeschichten zum Nachdenken
Eisblumen
Autor: Sophie Reinheimer
weiter lesenNun war draußen nirgendwo mehr eine bunte Blume zu sehen, die Beete im Garten waren mit Tannenzweigen zugedeckt, die Rosenstöcke hatten eine warme Strohkapuze über den Kopf bekommen, und auch die Blumenstöcke vorm Fenster waren verwelkt, und man hatte sie fortgenommen.
"Schade", sagte das Sofa, das so recht behaglich hinter dem großen Esstisch in der Stube stand und gerade auf das Fenster sehen konnte. "Es war so hübsch, wenn die Blumen uns zunickten und uns erzählten, was draußen auf der Straße vor sich ging." Die anderen Möbel fanden das auch. Der Tisch meinte zwar, man solle nicht klagen, denn jetzt fange die gemütliche Zeit für die Stube eigentlich erst an! Im Sommer liefen die Menschen alle fort - hinaus in Garten, Wald und Feld. Im Winter aber blieben sie hübsch in der Stube zusammen, erzählten sich was oder lasen sich was vor, und so hörten sie - die Möbel - doch eigentlich noch mehr als von den Blumen.
Das war wahr. Aber - schöner hatte die Stube doch mit den Blumen ausgesehen, das war ganz sicher. -
Nun hört, was ein paar Wochen später eines Morgens den Möbeln für eine große Überraschung aufblühte.
Es war bitterkalt draußen, und auch in der Stube war es in der Nacht so kalt geworden, dass die Möbel die Betten in der Schlafstube beneideten, die sich so schön mit warmen Federkissen zudecken durften. Da - als der Schrank eben aus dem Schlaf erwachte, tat er vor Verwunderung einen lauten Knacks.
Die anderen Möbel wachten alle davon auf, und was sahen sie? Das ganze Fenster war von oben bis unten mit einer schneeweißen, glitzernden Eiskruste bedeckt. Es war kein gewöhnliches, glattes Eis. Ganz sonderbare Gebilde waren darauf zu sehn - wie Blumen, Blätter, Stiele, aber alles ganz durcheinander - manchmal schwer zu erkennen.
"Was ist das nur?" fragte ganz leise das Sofa. Es war ganz benommen von der weißen Glitzerherrlichkeit. "Ist der Glaser vielleicht heute nacht da gewesen und hat heimlich andere Scheiben eingesetzt?"
"Vielleicht ist`s hier so ähnlich wie im Häuschen der Hänsel - und - Gretel - Hexe", meinte der Spiegelschrank. "Die Hexe, die in mir steht, wird die Scheiben in Zucker verwandelt haben."
Bei dem Wort "Zucker" machte die kleine schwarze Fliege, die auch mit in der Stube wohnte, sich schleunigst auf den Weg. Aber ganz enttäuscht kam sie bald zurückgeflogen. "Nein - es ist kein Zucker", sagte sie. "Es schmeckt auch nicht ein bisschen süß! Aber so rau ist`s wie Zucker, das ist wahr."
"Ich glaube, dass es Blumen sind", sagte das Gießkännchen. Das Ofenrohr, das immer gleich ein bisschen oben hinaus war, sagte zwar: "Ach - schwätzen Sie doch kein Blech!" Aber alle anderen in der Stube gaben dem kleinen Gießkännchen recht.
Ja - wer hatte diese seltsamen schneeweißen Blumen aber nur so in aller Herrgottsfrühe ans Fenster gezaubert? Die Möbel hätten es gar zu gerne gewusst! Aber das Fenster - das einzige, das doch darüber hätte Auskunft geben können - das war ganz starr und stumm, man wusste nicht, war es das vor lauter Entzücken oder hatte es jemand mit den weißen Blumen gleich mitverzaubert.
Horch - da klang plötzlich von der Straße her ein Lied:
"Der Winter hat heut über Nacht
Viel Blumen mitgebracht.
Eisblumen sind`s, Eisblumen sind`s -
Habt ihr`s euch nicht gedacht?
`ne ganze Ladung kam heut früh
Direkt vom Nordpol an,
Ganz frisch gepflückt, ganz frisch gepflückt,
Wie man gleich sehen kann.
Der Winter streut im Sonnenschein
Vor jedes Fenster sie.
Dooh - wundern sich die Leut da
Und staunen! Hui hihi - - - - - "
"Das war der Nordwind" - sagte der Ofen. "Ich kenn` ihn an der Stimme." Die Möbel in der Stube waren alle ganz verstummt. Eisblumen - also Eisblumen waren das? Und der Winter hatte sie mitgebracht? Natürlich - der Winter konnte ja nur weiße Blumen schenken, weiß wie der Schnee. Wie wunderbar - nein, wie wunderbar war das! Eisblumen - ob die wohl auf Eisbergen oder Eisfelder gewachsen waren? Oder ob der Winter einen großen Garten mit solchen Blumen hatte?
Es war doch schön von ihm, dass er die Blumen so heimlich ans Fenster gestreut hatte. Ja - er wollte mal zeigen, dass er auch schöne Blumen hatte, nicht nur der Sommer! Und nun war das Fenster doch nicht mehr so kahl, nun standen wieder Blumen da und schmückten die Stube.
Aber:
"Sie nicken uns nicht zu wie die Sommerblumen", meinte das Sofa.
"Und sie winken auch nicht mit den Blätterärmchen. Und sie duften nicht - und sie erzählen auch gar nichts", sagten die Stühle.
Nun kam auch noch ein Sonnenstrahl ans Fenster. Und nun verwandelte das Silber sich auf einmal in Gold - das blinkte und glitzerte, funkelte und leuchtete - nein, es ist gar nicht zu beschreiben, wie schön es war, es war wie in einem Märchen, einem Wintermärchen, es war so seltsam - ja, es war eben ein Blumengruß aus einer fremden Welt - aus der Eiswelt! -
"Tik - tak, tik - tak, tik - tak", macht die große Uhr an der Wand. Ihr war die Stille in der Stube ein bisschen ungemütlich, sie war immer mehr für Leben und Bewegung. Auch der Schrank tat noch einmal einen kleinen Knacks: "Wenn wir nur etwas tun können, dass diese weißen Blumen sich auch mal bewegten."
"Ich will sie ein wenig begießen", sagte das Gießkännchen. "Das wird wohl nichts nützen", meinte der Ofen. "Aber wenn wir jetzt mal ein Feuerchen ansteckten - so ein recht prasselndes, warmes Feuerchen - ha! Ihr solltet mal sehn, wie die weißen Blätter und Blüten dann auftauen und anfangen würden, sich zu bewegen. Sie sind nur so steif gefroren vor Kälte." Gerade, als ob der Ofen sie gerufen hätte, kam in diesem Augenblick das Mädchen Lina in die Stube. Sie hatte Papier und Holz in der Hand, damit macht sie - wie er es gewünscht hatte - ein Feuer an.
Jetzt viel es den Möbeln wieder ein, wie sehr sie in der Nacht gefroren hatten. Durch die Überraschung mit den weißen Winterblumen hatten sie`s wahrhaftig ganz vergessen.
In der Stube wurde es bald wärmer und wärmer. Neugierig sahen alle nach dem Fenster hin. Aber - du lieber Himmel - was war denn das? Von den Eisblumen waren die obersten ja auf einmal verschwunden! Fort - weg - ganz weg!
Wo waren sie geblieben?
Die Möbel sahen sich erschrocken an.
Und da - nein, aber nein - was war denn das nur? Immer mehr von den herrlichen weißen Blumen verschwanden ja! Immer mehr - da guckten schon wieder die alten, durchsichtigen Glasscheiben heraus.
Es war wie ein Zauber: Langsam -man wusste nicht wie, man wusste nicht wohin - zergingen sie, zerflossen -schwanden dahin. Nichts blieb von ihnen übrig als ein paar klare Wassertröpfchen, und die bewegten sich nun wirklich! Langsam wie Tränen flossen sie an den Fensterscheiben herunter!
"Das Fenster weint", sagte das weichherzige Sofa.
Aber da klang draußen auf der Straße wieder eine bekannte Stimme. Der Nordwind kam durch das Ofenrohr in den Ofen herein. Huuu - wie pfiff, und hihihi - wie lachte er!
"Nein - wie kann - wie kann man nur so dumm sein!" sagte er zu dem Ofen. "Schenkt euch der Winter da seine schönsten Blumen! Und was tut ihr? Macht Feuer an, um die Blumen recht schön zu braten. Hihihi - Eisblumen! Blumen, die in bitterer Winterkälte gewachsen sind! Als ob die Wärme vertragen könnten!
Nein - es ist zum Totlachen. Aber freilich: was wissen solche Stubenhocker wie Sofa, Tisch und Ofen vom Winter draußen?"
Da wurden die Möbel in der Stube alle traurig; traurig und ärgerlich. "Der Ofen - der Ofen ist schuld daran!" riefen sie. "Ich weiß es", sagte der Nordwind. "Er hat es gut gemeint. Aber jedermann kann so was eben nicht vertragen."
Der arme Ofen stand betrübt in seiner Ecke, er war schon ganz rotglühend geworden vor Scham. Nun hatte er die schönen weißen Blumen zerstört - den Fensterschmuck, über den die ganze Stube sich so gefreut hatte. Wie tat ihm das leid!
"Kannst du den Winter nicht vielleicht bitten, dass er uns wieder neue Eisblumen schickt?" fragte er den Nordwind.
"Bitten will ich ihn schon", sagte der Nordwind. "Aber ob er es tut - der alte Herr? Muss schon mal wieder bei besonders guter Laune sein - hihi! Na - wir wollen es hoffen."
"Ja - und mit der Hoffnung, tik - tak, wollen wir uns, tik - tak, zufrieden geben", sagte die Wanduhr.
Der Gärtner und die Herrschaft
Autor: Hans Christian Andersen
weiter lesenEine Meile von der Hauptstadt entfernt stand ein altes Schloss mit dicken Mauern, Türmen und gezackten Giebeln.
Hier wohnte, jedoch nur in der Sommerzeit, eine reiche, hochadelige Herrschaft. Das Schloss war das Beste und Schönste, was sie hatten. Es stand wie neugegossen von außen da, und drinnen herrschten Gemütlichkeit und Bequemlichkeit. Das Wappen der Familie war über dem Tor in Stein eingehauen und wunderschöne Rosen schlangen sich darum. Ein ganzer Grasteppich breitete sich vor dem Schlosse aus, und da waren Rotdorn und Weißdorn, seltene Blumen, selbst außerhalb vom Treibhaus.
Die Herrschaft hatte auch einen tüchtigen Gärtner. So war es eine große Lust, den Blumengarten und den Obst- und Küchengarten anzusehen. An diesen grenzte auch noch ein Rest vom ursprünglichen Garten des Schlosses. Er war mit Buchsbaumhecken bestückt, die so geschnitten waren, dass sie Kronen und Pyramiden bildeten. Hinter diesen standen zwei mächtige alte Bäume, doch sie waren fast immer ohne Blätter. Man hätte leicht glauben können, dass ein Sturmwind oder eine Windhose sie mit großen Klumpen Dünger bestreut hätte, aber jeder Klumpen war ein Vogelnest.
Hier baute seit undenkbaren Zeiten eine Schar schreiender Dohlen und Krähen ihre Nester. Das war eine ganze Vogelstadt, und die Vögel waren die stolzen Besitzer, die eigentliche Herrschaft des Schlosses. Keiner von den Menschen da unten ging sie etwas an, darum duldeten sie diese niedrig gehenden Geschöpfe. Das taten sie, obwohl die Menschen zuweilen mit der Flinte knallten, sodass es den Vögeln am Rückgrat kribbelte und jeder Vogel vor Schreck aufflog und schrie: "Rack! Rack!"
Der Gärtner sprach oft mit seiner Herrschaft davon, dass man die alten Bäume fällen sollte. Sie sähen nicht gut aus, und wenn sie wegkämen, sei man wahrscheinlich von den schreienden Vögeln befreit. Aber die Herrschaft wollte weder die Bäume noch die Vogelschar preisgeben. Das war etwas, was das Schloss nicht verlieren durfte, denn es war aus der alten Zeit, und die wollte man nicht ganz auslöschen.
"Diese Bäume sind nun das Erbgut der Vögel", sprach die Herrschaft. "Mögen sie es behalten, mein guter Larsen! - Ist denn ihr Wirkungskreis nicht groß genug, lieber Larsen? Sie sind der Gärtner und haben doch den ganzen Blumengarten, die Treibhäuser, den Obst- und Küchengarten?"
Das alles hatte er, und er pflegte und hegte es mit Eifer und Tüchtigkeit. Das wurde von der Herrschaft anerkannt, aber sie sagten ihm auch, dass bei Fremden oft Früchte und Blumen zu sehen seien, die größer und schöner als die eigenen seien. Das betrübte den Gärtner, denn er wollte das Beste und bemühte sich redlich.
Eines Tages ließ die Herrschaft den Gärtner rufen und sagte ihm in aller Milde, dass am vorherigen Tage bei vornehmen Freunden Äpfel und Birnen aufgetischt wurden, die so saftig und wohlschmeckend waren, dass sie und alle Gäste sich voller Bewunderung geäußert hätten. Die Früchte waren gewiss nicht hier aus dem eigenen Lande, aber sie sollten eingeführt und hier heimisch werden, wenn es das Klima erlaubte. Man wusste, dass sie drinnen in der Stadt bei dem ersten Fruchthändler gekauft waren. Der Gärtner sollte in die Stadt reiten und sich danach erkundigen, woher diese Äpfel und Birnen gekommen waren, und dann Pfropfzweige anfordern.
Der Gärtner kannte den Fruchthändler sehr gut, denn gerade an ihn verkaufte er für seine Herrschaft den Überfluss an Obst, der im Schlossgarten wuchs. Und so ritt der Gärtner in die Stadt und fragte den Obsthändler, woher er diese hochgepriesenen Äpfel und Birnen habe. "Die sind aus eurem eigenen Garten!", sagte der Fruchthändler und zeigte ihm sowohl Äpfel wie Birnen, die er dann auch erkannte.
Wie sich der Gärtner freute. Er eilte zu seiner Herrschaft und erzählte, dass sowohl die Äpfel als auch die Birnen aus dem eigenen Garten seien. Das wollte die Herrschaft gar nicht glauben. "Das ist doch nicht möglich, Larsen! Können Sie ein schriftliches Zeugnis vom Fruchthändler beschaffen?" Der Gärtner konnte es. "Das ist aber sonderbar!", sagte die Herrschaft.
Nun kamen jeden Tag große Schalen mit den prächtigen Äpfeln und Birnen auf den herrschaftlichen Tisch, alle aus dem eigenen Garten. Scheffel- und tonnenweise wurden diese Früchte und Pfropfzweige an Freunde gesandt: in die Stadt, aufs Land, ja, sogar ins Ausland. Das war ein wahres Vergnügen! Doch mussten sie hinzufügen, dass es zwei außergewöhnlich gute Sommer für Baumobst gegeben hatte. Das Obst sei überall im Lande gut geraten.
Es verging eine Zeit, und die Herrschaft aß eines Mittags bei Hofe. Am Tag darauf wurde der Gärtner zu seiner Herrschaft gerufen. Sie hatten bei Hofe Melonen bekommen, überaus saftvoll und wohlschmeckend, denn sie waren aus dem Treibhause der Majestäten.
"Lieber Larsen", sagte die Herrschaft, "Sie müssen zum Hofgärtner gehen, und uns einige von den Kernen dieser köstlichen Melonen verschaffen!" "Aber der Hofgärtner hat doch die Kerne von uns bekommen!", erwiderte der Gärtner ganz vergnügt. "Dann hat der Mann verstanden, die Früchte zu einer höheren Entwicklung zu bringen", entgegnete die Herrschaft. "Jede Melone war ausgezeichnet." "Ja, dann kann ich stolz sein", sagte der Gärtner. "Ich will der gnädigen Herrschaft damit nur sagen, dass der Hofgärtner in diesem Jahre kein Glück mit seinen Melonen gehabt hat. Als er aber sah, wie prächtig unsere standen, da bestellte er drei davon für den Hof!" "Larsen, bilden Sie sich doch nicht ein, dass diese Melonen aus unserem Garten waren!" "Doch, ich glaube es!" rief der Gärtner, ging zum Hofgärtner und erhielt von ihm einen schriftlichen Beweis, dass die Melonen auf der königlichen Tafel aus dem Garten der Herrschaft gekommen war.
Das war wirklich eine Überraschung für die Herrschaft, und sie verschwieg die Geschichte nicht. Sie zeigte das Schreiben überall herum, und es wurden Melonenkerne weit und breit versandt, so wie früher die Pfropfzweige der Äpfel und Birnen. Von diesen erhielt man Nachricht, sie hätten angeschlagen und Früchte angesetzt. Diese seien ganz vorzüglich, und man habe sie nach dem Schloss der Herrschaft genannt, sodass der Name jetzt auf Englisch, französisch und deutsch zu lesen war. Das hätte man sich doch niemals träumen lassen.
"Wenn nur der Gärtner nicht zu große Ideen von sich bekommt!", sagte die Herrschaft. Der Gärtner fasste die Sache aber ganz anders auf. Er wollte jetzt bestrebt sein, sich einen Namen als der beste Gärtner des Landes zu machen. Jedes Jahr wollte er versuchen, etwas Vorzügliches von allen Gartenarten zu bringen, und das tat er auch. Aber oft musste er hören, dass die allerersten Früchte, also die Äpfel und die Birnen, eigentlich die besten gewesen seien. Die Melonen waren ja freilich sehr gut gewesen, aber das war auch eine ganz andere Art. Die Erdbeeren konnte man ja vortrefflich nennen, aber doch nicht besser als die, die andere Herrschaften hatten. Und als die Rettiche in einem Jahre nicht gerieten, sprach man nur von den verunglückten Rettichen und nicht von den guten Dingen, die das Jahr gebracht hatte. Und es war jedes Mal eine Art Erleichterung zu spüren, wenn die Herrschaft sagen konnte: "Dieses Jahr ist es Ihnen nicht geglückt, lieber Larsen!"
Ein paar Mal in der Woche brachte der Gärtner frische Blumen ins Zimmer, immer höchst geschmackvoll geordnet. Er setzte die Farben durch die Zusammenstellung gleichsam in ein stärkeres Licht. "Sie haben Geschmack, Larsen", sagte die Herrschaft. "Es ist eine Gabe, die der liebe Gott Ihnen gegeben hat. Aus sich selber haben Sie es nicht."
Eines Tages kam der Gärtner mit einer großen Kristallschale, darin lag ein Wasserrosenblatt. Darauf war eine strahlend blaue Blüte gelegt, so groß wie eine Sonnenblume. "Hindustans Lotus", sagte die Herrschaft.
Eine solche Blüte hatten sie noch nie gesehen, und sie wurde am Tage in die Sonne und am Abend ins leuchtende Kerzenlicht gestellt. Jeder, der sie sah, fand sie wunderbar schön und selten. Ja, das sagte selbst die vornehmste von den jungen Damen des Landes, und das war eine Prinzessin selbst.
Die Herrschaft setzte alles daran, ihr solch eine Blüte zu überreichen, und die Prinzessin kam nun wirklich auf das Schloss. Die Herrschaft ging in den Garten hinab, um selber eine von den kostbaren blaue Blüte zu pflücken, aber sie war nicht zu finden. Da musste sogleich der Gärtner kommen.
"Wo habt ihr den Lotus stehen?", fragte die Herrschaft. "Wir haben in den Treibhäusern und im ganzen Blumengarten vergebens danach gesucht!" "Nein", antwortete der Gärtner, "dort ist sie nicht zu finden." "Es ist doch nur eine geringe Blume aus dem Küchengarten! Es ist die Blüte einer Artischocke!" "Das hätten Sie uns aber gleich sagen müssen", erwiderte die Herrschaft. "Wir mussten glauben, dass es eine fremde seltene Blume sei. Sie haben uns vor der jungen Prinzessin blamiert! Wie konnte es Ihnen doch einfallen, lieber Larsen, eine solche Blume ins Zimmer zu setzen. Sie machen uns ja lächerlich!"
Und die schöne blaue Prachtblüte, die aus dem Küchengarten geholt war, wurde aus dem herrschaftlichen Zimmer entfernt, wohin sie nicht gehörte. Ja, die Herrschaft brachte eine Entschuldigung bei der Prinzessin vor und erzählte, dass die Blume nur ein Küchengewächs sei, das der Gärtner hinzustellen sich erkühnt habe. Aber er habe dafür auch einen ernsten Tadel erhalten.
"Das ist aber wirklich unrecht", sagte die Prinzessin. "Er hat ja unsere Augen für eine Prachtblüte geöffnet, die wir bisher nicht beachtet haben. Er hat uns Schönheit gezeigt, wo es uns nicht eingefallen wäre, sie zu suchen! Der Schlossgärtner soll mir jeden Tag eine Blüte in mein Zimmer bringen, solange die Artischocken blühen!" Und so geschah es.
Die Herrschaft ließ dem Gärtner sagen, dass er nun wieder eine frische Artischockenblüte bringen könne. "Sie ist eigentlich sehr schön", sagten sie und lobten den Gärtner. "Das geht dem guten Larsen glatt herunter", tuschelte die Herrschaft heimlich. "Er ist ja wie ein verhätscheltes Kind."
Im Herbst brauste ein schrecklicher Sturm heran. Des Nachts wehte es so gewaltsam, dass viele große Bäume am Rande des Waldes mit der Wurzel ausgerissen wurden. Und zum großen Kummer für die Herrschaft, aber zur Freude für den Gärtner, wehten die beiden großen blätterlosen Bäume mit allen den Vogelnestern um. Man hörte im Sturm das Geschrei der Dohlen und Krähen. Sie schlugen mit den Flügeln gegen die Fensterscheiben, sagten die Leute im Schloss.
"Jetzt freuen Sie sich wohl, Larsen", sagte die Herrschaft. "Der Sturm hat die Bäume gefällt, und die Vögel sind zum Wald geflogen. Jetzt ist nichts mehr von der alten Zeit zu erblicken, jede Spur, jede Andeutung ist verschwunden! Das ist betrüblich!"
Der Gärtner sagte nichts, aber er dachte an das, was er lange gedacht hatte. Er wollte den prächtigen, sonnigen Platz nutzen, über den er bisher nicht hatte verfügen können. Er sollte eine Zierde des Gartens und eine Freude für die Herrschaft werden.
Die großen, umgewehten Bäume hatten die uralten Buchsbaumhecken mit all ihrer Schnittkunst zerdrückt und zerschmettert. Hier pflanzte der Gärtner ein Dickicht aus heimischen Pflanzen, die auf dem Feld und im Wald zu finden waren. Was kein anderer Gärtner in so reicher Fülle in einen herrschaftlichen Garten zu pflanzen wagte, das setzte er hier in die Erde. Jedes einzelne Gewächs erhielt einen Platz in Sonnenschein oder Schatten, so wie für die Art gerade gut war. Der Gärtner pflegte sie in Liebe, und es wuchs in Herrlichkeit.
Der Wachholderbusch aus der jütländischen Heide prangte hier in Form und Farbe wie die Zypresse Italiens. Der blanke, stachelige Christusdorn, immergrün in Winterkälte und Sommersonne, stand herrlich anzusehen da. Im Vordergrund wuchsen Farnkräuter in vielen verschiedenen Arten. Einige sahen aus, als seien sie Kinder des Palmenbaums, und andere, als seien sie die Eltern der feinen, schönen Pflanzen, die wir Venushaar nennen. Nicht weit davon stand die verachtete Klette, die in ihrer Frische so schön ist, dass sie ein Bukett schmücken könnte. Die Klette stand auf dürrem Boden, aber niedriger. Auf dem feuchteren Grund wuchs der Ampfer, auch eine verachtete Pflanze, die doch durch ihre Größe und ihre mächtigen Blätter so malerisch schön erscheint. Ellenhoch, mit unzähligen Blüten, wie ein mächtiger, vielarmiger Kerzenleuchter, ragte die Königskerze auf, die aus dem Feld in den Garten verpflanzt worden war. Hier standen Waldmeister, Schlüsselblume und Maiglöckchen, die wilde Calla und der dreiblättrige Sauerklee. Es war einfach eine Pracht.
Davor aber wuchsen ganz kleine Birnbäume, die aus französischer Erde stammten. Sie standen in Reihen, auf Stacheldraht gestützt, und bekamen viel Sonne und gute Pflege. Schon bald trugen sie große, saftige Früchte wie in dem Lande, woher sie kamen.
Statt der beiden alten, blätterlosen Bäume wurde eine hohe Flaggenstange aufgerichtet, um die der Danebrog wehte. Dicht daneben war noch eine Stange, um die sich zur Sommer- und Herbstzeit die Hopfenranken mit ihren duftenden Blütenbüscheln schlangen. Im Winter wurde aber nach alter Sitte eine Hafergarbe auf die Stange gehängt, damit die Vögel des Himmels in der frohen Weihnachtszeit auch eine festliche Mahlzeit hatten. "Der gute Larsen wird in seinen alten Jahren sentimental", sagte die Herrschaft, "aber er ist uns treu und ergeben geblieben."
Zu Neujahr wurde in einer Zeitung der Hauptstadt das Bild von dem alten Schloss gezeigt. Man sah die Flaggenstange und die Hafergarbe für die Vögel des Himmels in der frohen Weihnachtszeit. Es stand darunter geschrieben, dass eine alte Sitte hier wieder zu Ehren gebracht worden sei, so passend für das alte Schloss.
"Alles, was dieser Larsen tut", sagte die Herrschaft, "wird an die große Glocke gehängt. Er ist ein wahrer Glückspilz! Wir müssen ja fast stolz darauf sein, dass wir ihn haben!" Aber sie waren gar nicht stolz darauf! Sie selbst waren doch die Herrschaft und konnten Larsen kündigen, wann immer es ihnen beliebte. Aber das taten sie nicht, denn im Grunde ihres Herzens waren sie gute Menschen.
Es gibt viele gute Menschen dieser Art, und das ist ein Glück für jeden Larsen. Ja, das ist die Geschichte von dem Gärtner und der Herrschaft. Nun kannst du darüber nachdenken!
Weihnachten im Maschinenhaus
Autor: Heinrich Lersch
weiter lesenWeihnachten, Neujahr, Dreikönige. Feste, Feste, Feste ohne Ende. Das war für die Kesselschmiede keine schöne Zeit, damals vor zwanzig Jahren, als ich noch Lehrling war. Zu den Feiertagen wurden die Fabriken stillgesetzt: am Heiligabend wurden die großen Dampfkessel, die sonst das ganze Jahr voll siedendem Wasser und gespanntem Dampf waren, abgeblasen. Damals hatte man noch keine Reservekessel, es mussten auch die Maschinen hergeben, was sie konnten. Aber von Weihnachten bis Dreikönige wurden sie gründlich geputzt und repariert. Da mussten die Metallarbeiter, die Maurer, überhaupt die Handwerker 'ran, vom Heiligabend bis Dreikönige. - Zuerst wurden die Kessel untersucht; wir krochen, die Lampe hocherhoben in einer Hand, die andre Hand mit einem nassen Lappen umwickelt, durch das erste Flammenrohr, dann hinein in die Feuerzüge, leuchteten alle Nähte und Nieten ab, die Knie hochgezogen, hockend rutschten wir in den kaum drei Viertelmeter "großen" Flammenrohren und Feuerzügen herum. Das war die erste Tour, die dauerte eine halbe Stunde, immerzu durch fußhohen, glühheißen Ruß und Flugasche, in 50 bis 60 Grad Wärme. Ruß fiel herunter von den Rundungen der Kesselplatten in den Nacken, in die Augen. Ruß atmete die Lunge, die Nase saß voll Ruß. Wenn man dann hinaus kroch in den Kesselraum, was war es ein Hochgenuss, konnte man sich mit einem Lappen Schweiß und Ruß aus dem Gesicht und Nacken fegen, dann einen Schluck Wasser trinken und vor das Tor gehen: Glockengeläute dröhnte von der Stadt her, Weihnachtsglocken, am Abend vor dem Feste, dem Heiligabend! Sie sangen über die Dächer der Stadt ihr Freudenlied. Einmal hielt ich's nicht aus: ich verließ Kesselraum und Gesellen und stieg die eiserne Leiter hinauf, kletterte aufs flache Dach des Heizraumes, stand hoch über den Gebäuden der Fabrik, und umsungen vom Geläute sah ich hinein in die Stadt, in die fernen Häuser, in deren Fenstern der Heilige Abend aus dem Kerzengeflimmer eines Christbaums funkelte. Sah Gestalten sich bewegen, Väter, Mütter, Söhne, Töchter, Kinder! Heiligabend! Heiligabend!
Im ersten Lehrjahre meines jungen Lebens, setzte ich den Stolz des Lehrjungen gegen die Wehmut ein und fühlte nicht den Jammer, der sich vorbereitete. Aber schon im zweiten Jahr, da putzte ich mit meinem dick mit Ruß beschmierten Jackenärmel die rinnenden Tränen, da hatte ich schon Freunde, die zusammengekommen waren am Heiligabend.
Was soll ich es verschweigen - im dritten Jahr hab' ich mir das Schweißtuch ins Maul gestopft, um nicht aufbrüllen zu müssen: Heiligabend und die Freundin, die Jugendfreundin, die Kinderliebe, Nachbarskind - es brachte uns das Essen in die Fabrik, auch sie wollte Heiligabend nicht mitfeiern, wenn ich unterm Kessel liegen sollte. Scheu und fremd, das liebe Gesicht in ein Kopftuch gehüllt, saß sie neben mir auf der Heizraumbank und wartete, bis ich mein Essen heruntergewürgt. -
Nicht einmal eine Hand konnte ich ihr geben, die Gesellen hätten mich veräppelt die ganze Nacht. Und dann um Mitternacht, der Geselle hockte auf der Bank, ich muckelte schläfrig, und meine phantastische Seele lebte im Mysterium der heiligen Nacht: ich sah das Feld von Bethlehem, die Hirten, die Weissagung klang, ich sah im Heizraum, schwärzer als der Mohrenkönig, das ewige Licht, dachte mir aus: Wenn jetzt die Heilige Familie käme, hier in diesem Kesselhaus fände sie noch Licht, hier läuteten die Glocken unserer Hämmer: "Komm! Komm! Komm! Komm!" Und ich hätte das Heizraumtor aufgemacht, hätte - nein, ich hätte die weichesten Putzwollballen in den sauberen Maschinenraum geschleift, ein Lager bereitet, auf der Feldschmiede Kaffee gekocht, unsere Nachtbutterbrote auf einen sauberen Lappen gelegt, und ich sah den Glanz des ewigen Lichtes strahlen durch das Maschinenhaus. Ich sah den Gesellen, den halbbesoffenen, gebändigt und von heißer Glut ernüchtert, sah den Heizer kommen, voll Staunen, die schwarzen Kesselputzer, wie wir rußbestaubt, ein Dutzend schmieriger Gestalten, fernab der Stadt, einsam. Ach, wer sagt es, dass die anderen nicht auch den Heiland erwarten, sie waren doch auch alle des erbärmlichen Lebens satt und warteten auf den Erlöser. Einfältiger waren sie als die Hirten, denn sie glaubten noch den Reden der Herren, die ihnen goldene Berge versprachen, wenn sie selbst einmal - reich und mächtig - geworden. Sie glaubten dem Menschenwort, weil Gotteswort zu überirdisch klang.
Was war das ein Gang zur Mette! Um drei Uhr Gesicht und Hände abgeseift, immer noch schwarze Ringe um die Augen, frisches Hemd, Kragen des Überziehers aufgeschlagen, den Ruß spürend in jeder Hautpore, aus dem glühheißen Kessel in die morgenkalte Kirche. Wie geschniegelt und gebügelt, wie eitel geckenhaft kamen uns dann die Herren vor, Modepuppen, selbstgefällig ihre glatten Scheitel tragend, wie schön die Frauen und Mädchen in ihren warmen Mänteln! Wir trugen den Ruß, den Schmutz nicht nur in unserer Haut, nein, bis in das, was man Seele nannte; wir fühlten in den Blicken der Neugierigen, die uns müde Gestalten musterten: ihr stört ja die Andacht und die Stimmung mit euren abgespannten Gesichtern! Das strahlende Licht vom glühenden Stern über dem Altar schmerzte in den rußzerbissenen Augen.
Und die Orgel, die Orgeltöne! Sie rissen mir die Brust entzwei: Freut euch, Menschen, die ihr wart verloren! Wie gern wäre ich niedergekniet, aber, ich musste stehen bleiben, die Müdigkeit kam; hätte ich in einer Bank gesessen, längst wäre ich eingeschlafen. So hielt ich mich aufrecht, bis die erste stille Messe vorüber war und das Hochamt in der Mette begann. Dann schob ich mich mit unsäglich bedrückter Seele hinaus aus der Gemeinschaft der Christgläubigen, hinein in die kalte Nacht, zurück in die Fabrik. Die junge, fromme Seele suchte nach einem Trost, nach einer Stimme, die ihm verzieh, dass er nicht drei heilige Messen mit Andacht hören konnte. Und fand den Trost erst, als ich wieder im Kesselhaus angelangt war und - nun den hellen Schein im Maschinenhaus sah: sollte doch das heilige Paar?
Nein! Aber die Heizer, Maschinisten und Kesselputzer saßen um die Feldschmiede, deren Flammen hoch loderten, und erzählten Geschichten von anderen Weihnachtsnächten. Der eine, ein alter Seemaschinist, von Weihnachten unter Schwarzen und Wilden unter tropischer Sternenpracht, der andere von der Wanderschaft, Weihnacht in Pennen und Herbergen, in Gefängnis und Arbeitshaus. Und alle dankten es ihrem Schicksal, dass sie nun in der Heimat waren und Geld, ein wenig mehr als an sonstigen Tagen, verdienen konnten.
Bis der kleine Rasch von billigem Schnaps und krampfigem Vergessen erlosch und die Arbeit, das brüllende Müssen, uns wieder in den Kessel trieb. Der Hammer donnerte an den Nietköpfen, die Stemmer klinkten an den Nähten, der Schweiß rann durch die rußigen Gesichter. Georg Kriegesmann, der Nieter aus Bremen, sagte: "Lat se man feiern, Junge, lat se man! Der Weg des Arbeiters ist der vom Stall zum Kreuz, - du bist jung und voll Hoffnung. Wenn Jesus die Seele erlöst hat, wie sie so schön sagen, so erlösen wir Arbeiter den Leib aus den Klauen des Satans! Vom Stall zum Kreuz geht der Weg, mein Junge, dat is wohl immer so gewesen. Aber, wir Arbeiter schenken der ganzen Welt den Frieden!"
Die heilige Weihnachtszeit
Autor: Peter Rosegger
weiter lesenWenn der Städter über Feiertage etwas Sicheres wissen will, so muss er sich bei den Bauern anfragen. Der städtische Arbeiter genießt den Feiertag, ohne viel darüber nachzugrübeln; der Bauer, der sonst nicht gerade gewohnt ist, den Grund und Zweck der Dinge zu erfassen, will jedoch wissen, warum er rastet, in die Kirche geht oder sich einen Rausch antrinkt. Er hat seine Feiertagswissenschaft und seine Feiertagsstimmung.
Ich will von mir nicht reden, sagt man, wenn man von sich selbst zu reden beginnt. Allein um das zu sagen: Ich war, so lange mich die Bauernfeiertage noch etwas angingen, ein gar radikaler Patron. Mir waren der Kirchenkalender und darin die einzelnen Feste chronologisch zu sehr verschoben. Ich wollte, dass das kirchliche Jahr und das Sonnenjahr gleichen Schritt halten sollten, wie sich’s auch gehört, wenn Himmel und Heiland mit einander harmonieren wollen. Da die Sonne nun aber einmal nicht nachgibt, so sollte die Kirche nachgeben. Sie hätte, wie ich einmal gelesen, ihre größten Feste ohnehin auf willkürliche Tage gesetzt. Und wenn am 22. Dezember, als an dem Tage, da die so tief gesunkene Sonne ihre Umkehr hält, schon der Advent nicht beginnen will, so hätte ich es mindestens gern gesehen, dass am selben Datum der Christtag gewesen wäre. Daran hätte sich ohne Einschub schicksam gereicht alle Feste, die sich auf die Kindheit Jesu beziehen, als das Fest der Beschneidung, der Opferung, der Heiligen drei Könige, der Unschuldigen Kinder u. s. w. so dass wir mit den Weihnachtsfeiertagen bequem vor dem Fasching fertig geworden wären. Nach derselben Fortsetzung aller weiteren Feste, mit denen man bis Ende Juni zu Rande gekommen sein würde. Die zweite Hälfte des Jahres könnte den Heiligenfesten gewidmet werden, und das durcheinander wäre einmal nicht Not! – Und die Richtigschiebung der Zeit könnte auf die einfachste Weise bewerkstelligt werden, wenn man vierzig Jahre lang den Schalttag aus dem Spiele ließe. Durch das zehnmalige Wegfallen des Schalttages wäre das bürgerliche Jahr um zehn Tage verrückt und fiele mit dem Sonnenjahr zusammen. – Ich habe diese Reformpläne auch richtig einmal meinem Beichtvater, dem guten alten Pfarrer Johann Plesch in Kathrein am Hauenstein, vorgelegt; dieser meinte, wie er die Gelehrten und auch die Katholische Kirche kenne, würden sie auf eine solche Änderung nicht eingehen wollen. Es hätten die Franzosen einmal bei einer großen Revolution mit Feuer und Schwert die Sonn – und Feiertage verlegt, wäre doch aber schließlich die heilige Kirche mit ihrem alten Brauch Herr geblieben. So sollte ich als einfältiger Bauernbub von solchen Sachen hübsch still sein.
Sonach beschäftigte ich mich heute mit dem, wie es ist, und nicht mit dem, wie es sein sollte.
Die Weihnachtszeit hebt – wie die Weltgeschichte überhaupt – mit Adam und Eva an. Diese unsere lieben Eltern haben dem Kalender nach am 24. Dezember ihren Namenstag. Daher könnten schlechte Christen die Weihnachtsgeschenke auch so auslegen, als ob am Tage ihrer ersten Eltern, als am Erinnerungstage ihres eigenen Entstehens, die Menschheit mit Liebesgaben sich selber gratulierten. Weil ihr in der Tat zu gratulieren wäre, wenn sie sich täglich so benähme, wie am Weihnachtsabende.
Die eigentliche Weihnachtsvorahnung beginnt mit dem „Nikolo“ und vollends mit der Thomasnacht, die Christnacht und die Silvesternacht sind die Nächte der fragenden Jungfrauen. In der Thomasnacht werfen sie ihre Schuhe nach der Kammertür; bleiben die Schuhe so liegen, dass die Spitzen in die Kammer weisen, so kommt im nächsten Jahr ein Bräutigam; stehen die Schuhspitzen gegen die Tür, so kann auch einer kommen, geht aber wieder fort. In der Christnacht tragen die Jungfrauen vom Holzgelass einen Arm voll Scheiter ins Haus; sind die Scheiter paarweise, heißt das: in gerader Zahl, so wird im nächsten Jahr geheiratet. In der Neujahrsnacht endlich soll beim Bleigießen ein Figürlein die Hoffnung bestätigen. Das liebe Dirndl im Hochreithhofe! die Schuhe versprachen ihn, die Scheiter versprachen ihn und das Blei ließ die günstige Auslegung zu. Er kam, sie saß ihm auf und – blieb sitzen. Jetzt weiß man nicht, sind die Männer nichts nutz, oder die Gebräuche!
Das heilige Schauern, das am Christabend durch die Welt geht, empfindet auch der Bauer. Auch ihm wird warm. Ist’s doch als ob an diesem Tage die Naturgesetze andere geworden wären. Fast bangt man um das Gleichgewicht der Welt, da so plötzlich alles Freude ist und überall die Charitas herrscht.
Zum Glück ist der Tag bald vorüber, dem großen Feste ducken sich St. Stefan und Johannes an; der erstere will als Erzmärtyrer an der Weihnachtsfeier Anteil haben, der letztere beruft sich auf seine besondere Freundschaft mit dem Heiland; der erstere macht sich bei den Bauern durch sein Stefaniewasser wichtig, der letztere weiß sich mit dem Johanneswein einzuschmeicheln – aber zu dem eigentlichen Weihnachtsgefolge gehört keiner von beiden. Erst der Unschuldige – Kindertag ist wieder echt; er bringt in den süßen Weihnachtsfrieden die schreckbare Kunde von dem Kindermassenmord des Herodes. Das Volk feiert dieses Gedächtnis durch Rutenstreiche, mit denen eins das Andere am Morgen des achtundzwanzigsten Tages im Dezember unter den Worten: „Frisch und gesund!“ aus dem Bette peitscht.
Nach den unschuldigen Kindern kommt ein heiliger Thomas, geborener Londoner, ein Bischof zu Kandelberg, der sich so wacker und unbiegsam den Staatsgesetzen seines Vaterlandes widersetzt hatte, das ihn die Kirche heilig gesprochen. Unsere Bauern nenne den Mann „Thoma Windfeier“ und sagen, wenn sie an diesem Tage nicht arbeiten, so werden sie im kommenden Jahre von kalten Winden und Stürmen verschont bleiben. Sie machen daraus den fünften Weihnachtsfeiertag.
Als sechster folgt einer aus dem alten Testament – ein berühmter Poet und Saitenspieler – der liebenswürdige König David. Der alte Herr hat in der Tat auch ein Recht, Weihnachtsbesuch zu machen bei dem Kinde, das ja seinem – dem Geschlechte Davids entstammt.
Heiligen – Legenden und antisemitische Kalender ignorieren den Alten und protegieren an diesem Tage die heilige Witwe Melania. Von dieser Witwe steht’s in der Hauspostille des Bauers gar schon zu lesen: sie war eine reiche Römerin, aus Liebe zu Gott etwas störrig gegen ihren Mann, bis sie dann beide ins Kloster gingen, wo der Gatte bald starb, Melania sich jedoch den göttlichen Wissenschaften hingab und mit großer Beredsamkeit der Frauen gegen die Irrlehren kämpfte. Vor so einer muss der jüdische Harfenist freilich zurück stehen.
Endlich ist Silvester da. Dieser Mann war bekanntlich römischer Papst; er hatte stark mit den Juden zu kämpfen. Ich erinnere mich an ein Geschichtlein. Eines Tages brachten die Juden einen wilden Ochsen zu ihm und sagten: der Name ihres Gottes sei so groß und schrecklich, dass, wenn sie selben dem Ochsen ins Ohr sagten das Tier auf der Stelle tot zusammen stürzen müsse. Der Papst ließ es auf eine Probe ankommen, und in der Tat, der Ochse fiel bei der Nennung des Judengottes um und war tot. Nun sagte der Papst Silvester: „Wenn der Name eures Gottes so schrecklich ist, ein Tier zu töten, so ist der Name des meinen so mächtig, es wieder zum Leben zu erwecken.“ Er rief das Wort aus – und das Tier wurde wieder lebendig.
Indes hat Silvester seine große Berühmtheit weniger dieser Auferweckung zu danken, als dem Umstand, dass er der Schlusswart des Jahres geworden ist. Das ist aber beziehungsweise seit kurzer Zeit; erst im Jahre 1583, also vor dreihundert Jahren, hat der gregorianische Kalender im katholischen Deutschland Eingang gefunden, wonach Silvester als Torschließer angestellt wurde und als solcher mancherlei Gratifikation bezieht.
Das Neujahrsfest ist der achte in der Reihe der Weihnachtsfeiertage. an diesem Tage schiebt der Bauer seinem Vaterunser folgenden Satz an: „Wölln Gott bittn um a glückseliges neus Jahr; und dass er’s verflossni Johr glückseli g’schenkt hot, donksogn!“ Der Kracher Martin auf der Niederlenthen ist so gottergeben zufrieden, dass er als ihm in einem Jahr ein reicher Oheim, zwei Weiber und eine Schwiegermutter starben, in dem Satz des darauf folgenden Neujahrsgebetes: „s verflossni Johr glückseli g’schenkt hot, donksogn‘ nicht eine Silbe änderte.
Nun kommen vier Werktage, die aber, weil sie noch in der Weihnachtszeit liegen, eine gewisse Ausnahmestellung genießen; es soll in denselben weder gedroschen noch gesponnen werden. Der Abend des 5. Jänner gebärdet sich als ob mit ihm das hohe Fest von neuem beginnen wollte. Wie am Christ – und am Silvesterabend, so geht der Bauer mit dem Weihrauchgefäß und dem Sprengwedel durch Haus und Hof; nur der Unterschied, dass er diesmal mit der Kreide an jede Tür und jedes Tor drei Kreuze zeichnet, und auf die Türstirne seiner Stube oder den Trambaum folgende Zeichen malt: C + M + B +. Mancher, der’s leider selber nicht kann, entlehnt sich irgendwo einen Schriftgelehrten, der ihm die „heiligen drei Könige“ aufschreibt.
Mich ließ einst für diese Geschäft unsere Nachbarin, die alte Riegelbergerin, holen; nun war im Hause ein Stück Kreide von der Größe einer Erbse, so dass ich es kaum zwischen den Fingern zu halten vermochte. Das C und das M gelangen mit Mühe, dann sprang das weiße Körnchen plötzlich ab, verkollerte sich auf dem Fletz und war nicht mehr zu finden. Was jetzt? Ich zeichnete das B mit einem Stück Holzkohle. die Riegelbergerin erschrak, denn gerade als Schutz gegen den „Schwarzen“ hatte sie sich die heiligen Zeichen machen lassen. fragte ich denn ob sie diese Sache je mit besserem Schick und Sinn ausgeführt gesehen? Ob sie nie etwas davon gehört, von den heiligen drei Königen der eine der Balthasar, ein Mohr gewesen?
Der Ausspruch hat mir ein Stück Kletzenbrot eingetragen; was weiter war, weiß ich nicht mehr.
Wenn ihr brave Kinder wäret meine lieben Leser, ich würde euch viel Anmutiges erzählen von den heiligen drei Königen. Es sollen, sagt eine Auslegung, nicht sowohl Könige als Weise gewesen sein, aber man hat erwogen, dass man vor dem Volke mit goldschimmernden Königen mehr Ehre einlegt, als mit Weisen. Der Prophet Balaam hatte einst gesagt: Es wird aus dem Reiche Jakobs ein Stern aufgehen, und der wird einen mächtigen König bedeuten über Juden und Heiden. Hierauf stellten die Heiden Wächter auf einen Berg, den Stern zu erspähen, und diese wachten anderthalb tausend Jahre. Aber in einer Nacht, da von der Wüste der warme Hauch heranwehte und aus der Ferne das Meer rauschte, schliefen sie ein. Da ging der Stern auf. Das kündeten sie den Ländern. Und hierauf machten sich drei Könige auf den Weg, den Stern zu suchen. Es war nächtig und der Stern zuckte vor ihnen über den Erdeboden dahin, und weil sie Weise waren, so gingen sie dem neuen, unbekannten Lichte nach, Tage und Tage lang; es gesellten sich ihnen auch andere Könige und Herren bei mit großem Gefolge, bis sie in die Stadt Jerusalem kamen. In dieser Stadt sprachen sie beim Herodes vor, fragend, wo der große König sei, auf den der Stern deute? Der Judenkönig heehrte die Gäste mit Pomp und antwortete: der große König sei er selber und einen andern kenne er nicht in diesem Lande. Sie möchten aber suchen, fänden sie einen, der größer wäre als er, so sollten sie es ihn wissen lassen, dann sei er der erste, der sich neige. – Sie wanderten weiter. Der Stern glühte über die Auen dahin und stand still über einem Dache, das eine reisende Handwerksfamilie barg. Und ein Kindlein war da in der größten Armut und Bedürfnislosigkeit, und hatte helle, freundliche Augen. Die Könige, da sie müde waren und nicht mehr hoffen konnten, den Gesuchten zu finden, legten ihre besten Gaben dem Kinde hin. Aber die armen Leute sagten: „Wozu brauchen wir euer Gold, euren Weihrauch, Eure Myrrhen? Die Erde ist unser Bett, der Himmel ist unser Hut. Dieses Kind, welches so hablos ist, dass wir es auf das Heu des Rindes legen mussten, ist nicht gekommen zu empfangen, es ist gekommen zu geben.“
Da flüsterten die Könige zueinander: „Wir haben ihn gefunden. Lasst es uns eilig dem Herrn Bruder melden!“ Einer von ihnen, der schwarz an Farbe war gab die Meinung ab, Herodes scheine nicht dazu angetan, sich in seinem Lande vor einem andern zu beugen. Es würde klug sein, ihm das Kind nicht zu verraten. Sie kehrten auf anderem Wege in ihre Länder zurück. – Herodes hatte trotzdem erfahren, dass sich unter den kleinen Kindern zu Bethlehem eines befinde, das nach der Weissagung der Juden größter König werden würde, und da es ihm nicht gelang, dasselbe herauszufinden, so ließ er in und um Bethlehem alle Knaben ermorden. –
Schlaft ihr? Oder weint ihr? Oder belächelt ihr den Erzähler? Ach, ihr habt die Botschaft schon allzu oft und in allzu absichtlicher Weise gehört, um die göttliche Lieblichkeit und wilde Größe, die darinnen liegt, noch zu empfinden! Von den drei wirklichen Weihnachtsfesten – der Geburt, der Beschneidung und der Erscheinung der Könige – birgt das letztere den grandiosesten Inhalt, die unbegreiflichsten Wunder. Warum kamen die mächtigsten Herren und knieten vor dem armen Kinde? Weil sie Weise waren. als ob sie wussten, dass sich im Wohlleben und Prunk kein Gottmensch entwickeln kann, dass die Armut und die Einsamkeit und die Verlassenheit, und alles Liebe und alles Leid des Volkes, dazu gehört einen groß angelegten Menschen zu einem Heros und Erlöser zu machen.
Wenn ich wieder einmal auf der Tenne stehen sollte und den Korngaben predigen, wie einst als zehn – bis vierzehnjähriger Junge, da ich den Strohköpfen die Weihnachtspredigten hielt, bis mir unser Knecht Markus einmal im Vertrauen mitteilte, ich sei der schönste Pfaff für die Hauskapelle in einem Narrenturm – wenn ich wieder einmal so vor Strohköpfen predigen sollte (kein Mensch kann’s wissen, was ihm bevorsteht) ich wollte die Geschichte von den drei heiligen Königen und ihrem Stern so verwegen ausspinnen, wie ich es an dieser Stelle nicht tun darf.
Am zweiten Tage nach Heiligen-Drei-König ist das Gedächtnis des heiligen Erhard, der im steirischen „Mannelkalender“ mit einem Bischofsstabe und einer Holzaxt angedeutet steht.
Die Legende erzählt, dass die Holzaxt das Marterwerkzeug wäre, mit welchem der heilige Bischof getötet worden sei; aber der Bauer weiß es, dass Sankt Erhard die Axt hat, um damit endlich die Weihnachtsfeiertage abzuhacken, nachdem solche mit leichten Unterbrechungen zwei volle Wochen gedauert haben. Andere Auslegungen sind, dass Erhard mit der Axt die eingeeisten Mühlräder enteisen und dann in den Wald Brennholz hacken gehen will.
Und so ist Werktagzeit geworden. In der Kirche klingt die Weihnachtsstimmung noch bis Maria Lichtmess fort. Hier außen tobt der Karneval; wer nicht arbeitet und nicht betet, der mag tanzen, der Erdeboden ins eingeölt, der Himmel drückt ein Auge zu.
Und mich wollen jetzt, da ich diese Betrachtung beschließe, die Prosanen haben und die Frommen. Beide, um mich zu verbrennen. Ich entschlüpfe den geringen Krallen wie ein Schmetterling. Ich liebe die Blumen. Und die holde, die selige Weihnachtszeit mit ihren heiligen Mythen ist eine Blume mitten im Winter des Jahres und des Lebens – eine Blume, die an meinem Busen blühen möge, wenn ich freie und wenn ich sterbe. Oder weiß einer von Euch Frommen und Prosanen im Himmel und auf Erden schöneres zu denken, als eine junge keusche Mutter mit dem Kinde? Als ein Kind, das mit dem Fleisch gewordenen Wort: „Tue Gutes denen, die dich hassen; liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ die Welt erlösen will?
Über der Waldlandschaft liegt eine starre, blasse Winternacht. Am Himmel steht der Mond, aber der Schnee auf den Fichtenbäumen flimmert nicht, denn der Mond und die Sterne sind durch eine matte Wolkenschicht verdeckt. In solcher Dämmerung sind die Höhenrücken und die Täler und Schluchten nur unbestimmt zu sehen, hier ragen die schwarzen Zacken der Bäume schärfer auf, weiterhin verschwimmen die Umrisse der Berge und Bäume teils in Frohlust, teils im Schleier eines sachte beginnenden Schneiens.
Durch diese Nacht zittert ein Klingen. Es kommt von allen Seiten her, es ist, als ob die Schneeflocken in der Luft klängen. Es steigt von den Tälern herauf, wo Dörfer und Kirchen stehen, es sind die Glocken der heiligen Weihnacht.
Welch eine wunderbare Erscheinung an diesem Tage! Wenn eines Tages am Himmel zwei Sonnen stehen, so ist das Wunder nicht größer, als jenes, das sich am Weihnachtsfeste vollzieht. Das ist ein Tag, an welchem von all den eigennützigen Menschen keiner an sich, jeder an andere denkt. Einer den andern mit Freuden zu überraschen, mit Gaben zu überhäufen, das ist das Ziel dieses Tages. Es ist kalter Winter, aber keinen friert, denn die Kerzen sind warm. Es gibt heimliche Arbeit Tag und Nacht, keiner ermüdet, keinen hungert, die Liebe zum Mitmenschen stärkt und sättigt alle. Es ist, als ob die Naturgesetze andere wären, und fast bangt man um das Gleichgewicht der Welt, da so plötzlich alles in Freude ist, da so plötzlich die Allgewalt der Charitas herrscht. Wenn ich am Morgen des Weihnachtsabends erwache und mein Auge auf den Christbaum fällt, der in Erwartung der nahen Jubelstunde still auf dem weiß gedeckten Tische steht, da werden mir die Augen feucht. O Weihnachtsfest, das du die Herzen der Menschen erweckest und mit himmlischem Maienhauch die Erde zum Heiligtum wandelst, sei gegrüßt! Sei gegrüßt, du göttliches, du unbegreifliches Weihnachtsfest.
Der heilige Abend und der Christtag! Zwei Tage haben wir im Jahre, an welchem die Liebe herrscht, die vor nahezu zweitausend Jahren der Heiland geoffenbart hat. Wenn jedes neue Jahrtausend auch nur einen Tag der selbstlosen Liebe in das Jahr dazulegte, so brauchen wir nur mehr dreihundertdreiundsechzigtausend Jahre, bis die Erde – vorausgesetzt, dass sie so lange das Leben hat – ein Himmelreich ist.
Übrigens, wenn manche Leute das, was sie für den „Himmel“ tun, ohne dass die Mitmenschen davon einen Vorteil haben, für diese Welt und ihre Bewohner üben wollten, wir kämen noch um ein Bedeutendes früher zum heiß ersehnten Reiche Gottes auf Erden. –
Ihr kennt die Geschichte, wie der arme Gregor hinausging in den Wald, um für seine lieben Kinder ein Christbäumchen zu holen. Dabei ergriff ihn der Förster und ließ ihn als einen Dieb und Waldfrevler sofort in den Arrest stecken. Das bürgerliche Gesetzbuch sagt, der Förster hätte recht getan. Das ist mir schon ein Verdächtiger, der immer nur aufs bürgerliche Gesetzbuch schaut und auf nichts anderes. Wir tragen ein anderes Gesetzbuch in unserem Herzen. Als ich einst in jungen Jahren aus dem Waldhause in die Fremde ging, unwissend und unerfahren, nahm mich meine Mutter an der Hand und sagte: „Peter, wenn du einmal einem anderen etwas tun willst und weißt nicht, ob’s recht oder unrecht ist, so mache auf ein Vaterunser lang die Augen zu und denk‘, du wärest der andere.“ – Da habt ihr das Evangelium, den Katechismus und das bürgerliche Gesetzbuch in wenigen Worten beisammen.
Finden denn die Weihnachtsglocken nimmer Harmonie in unserer Seele? Heute ausgelassene Schenkfreude, morgen wieder Lieblosigkeit. Wäre denn die Treue, das herzliche Anschließen des Menschen nicht selbstverständlich auf dieser Welt, wo die Elemente jede Stunde tausend Waffen gegen uns bereithalten? Wahrlich, es ist nicht klug, sich Feinde zu schaffen unter den Brüdern und hohlen Phantomen nachzujagen und Herzen zu verwunden die kurze Zeit, da wir das Sonnenlicht schauen über den Gräbern. Die Lichter am Weihnachtsbaum, sie brennen genauso feierlich ernst und still, wie jene dereinst an der Totenbahre!