Der Mistelbusch

Der Mistelbusch
Auf dem Felde draußen stand ein wilder Apfelbaum.
Man darf sich nicht weiter darüber wundern, dass der Apfelbäum wild war. Denn - nun: du wirst ja gleich hören.
"Herr Apfelbaum - Sie sind aber ein gelungener Kerl! Sie gehen ja mit Mistelbüschen hausieren statt mit Äpfeln! Ha ha ha -," lachten die roten Mohnblumen im Felde.
"Fein bist du raus - Brüderle," rief nun auch der Kirschbaum von der Allee herüber. "Ich hab' schon gedacht, mein Wirtshaus wär' recht gut besetzt! Aber solche Dauer-Stammgäste wie du - nein - die hat wahrlich nicht jeder anzuweisen. Ha ha ha!"
Wenn der Apfelbaum gekonnt hätte, so wäre er noch wilder geworden über solche Reden. So sagte er nur erbost: "Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen." Das tat den Mohnblumen nun doch leid. "Erzählen Sie uns doch mal, wie Sie eigentlich zu den Mistelbüschen gekommen sind," baten sie.
"Ach - ihr wollt ja die Geschichte doch nur weiterklatschen und mich blamieren," sagte der Apfelbaum ärgerlich.
"Bestimmt nicht!" beteuerten die Mohnblumen. "Wir versprechen Ihnen sogar, die Geschichte wieder zu vergessen. Wir werden den Schlafmohn im Garten um einige Saatkörner bitten. Sie wissen ja: Die haben Zauberkraft und bringen Schlaf und Vergessen."
Ja, das wusste der Apfelbaum. Aber er traute dem Frieden doch nicht recht. Weil er sich jedoch - wie alle Wirtsleute - gern unterhielt, so fing er doch an zu erzählen.
"Mein ganzes Unglück verdanke ich den Drosseln," fing er an. "Erdrosseln könnt' ich sie für ihre Unverschämtheit! Kehren da eines Tages bei mir ein - pischpeln mir leise etwas ins Ohr, ich nicke - und nachher habe ich die Bescherung! - Ich merkte wohl, dass in meinem Hause irgend etwas nicht geheuer war. Dass aus meinen Vorratskammern allerlei gute, nahrhafte Dinge verschwanden und dass auch hinter meinen Saftfässern jemand her war. Aber ich wusste lange nicht, wer.
Da - eines Tages - sehe ich ein paar Wurzelbeinchen. Und nun wusste ich, was die Glocke geschlagen hatte!"
"Was hatte sie denn geschlagen?" fragten neugierig die Mohnblumen, als der Baum ein Weilchen im Erzählen innehielt.
"Matthäi am letzten!" schrie der Apfelbaum nun wieder ganz wild. "Mistelgäste waren es, die sich bei mir eingenistet hatten! Die Vögel hatten sie hinterrücks bei mir abgesetzt. Und wer Misteln - das Schmarotzerzeug, das elende - kennt, der weiß, dass er nix zu lachen hat. Wachsen tut es - und saugt einem aus - - -"
"Schließen Sie doch Ihre Speisekammer zu - und verstopfen Sie Ihre Fässer," schlugen die Mohnblumen vor.
"Tät' mir nichts nützen. Unkraut vergeht nicht! Die Gesellschaft ist zäh wie Leder und kommt auch monatelang ohne Nahrung herum. In meinem großen Hause aber kann ich auch nicht immer alles hinter Schloss und Riegel halten."
"So bitten Sie den Herbstwind, dass er sie hinauswirft. Oder den Winter, dass er sie erfrieren lässt."
"Nützt alles nichts - Unkraut vergeht nicht!" sagte der Apfelbaum traurig.
Nun ist Traurigkeit etwas, das Kinder nicht gut und Sonnenstrahlkinder noch viel weniger gut sehen können. Und ein paar Sonnenstrahlkinder hatten die Geschichte des Baumes mit angehört. Sie streichelten nun den traurigen wilden Apfelbaum, küssten ihn zärtlich und sagten: "Die Mistelbüsche sehen wirklich ganz hübsch aus. Sie haben so feine, grüne Blätter. Und wie schön erst im Herbst ihre Früchte aussehn! wie große, weiße Perlen."
Über diesen Trost musste der Apfelbaum beinahe lachen; er sagte aber nur: "Lasst gut sein - ist schon gut."
Da beschlossen die Sonnenstrahlen, ihre Mutter zu fragen, ob sie nicht einen besseren Trost wisse. Und schon am nächsten Tage kamen sie wieder freudestrahlend angetanzt.
"Apfelbaum - lieber wilder Apfelbaum - Mutter hat gesagt, du sollst nur ganz, ganz still sein! Du wüßtest gar nicht, was du für vornehme Leute bei dir wohnen hast. Heilige seien es sogar! Die Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter der Menschen hier haben sie heilig gesprochen. Und in Engelland würden sie an Weihnachten ebenso verehrt, wie bei uns der Tannenbaum."
"In Engelland - bei euch droben?" fragte der Baum ungläubig.
"Nein, es muss auch hier unten auf der Erde ein Engelland geben. Aber Mutter sagt, du sollst froh sein, dass du die Heiligen bewirten darfst!"
Der Apfelbaum wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Frau Sonne sprach doch gewöhnlich die Wahrheit. Aber diese Plagegeister von Gästen: Heilige? Und Engelland?
"Noch nie gehört!" brummelte er.
Nun ist es jedoch komisch: hörst du heute ein Wort, das du noch nie gehört hast - gleich heute oder morgen oder übermorgen wirst du es noch einmal hören.
So ging es auch dem Apfelbaum. Schon am andern Nachmittag kam ein Trupp Wandervögel über das Feld daher gezogen. Mit Gitarren und Mandolinen - mit Sing und Sang.
"Dort - ist das nicht ein wilder Apfelbaum - mit Mistelbüschen drauf?" rief plötzlich eines von den Vogelweibchen; es war so bunt angezogen wie ein Distelfink.
"Heifsassa!" sangen gleich die Männchen, und dann blieben alle unter dem Baume stehn und brachten ihm ein Ständchen:

"Der Mistelbusch - der Mistelbusch
Ist ein Schmarotzer nur.
Und dennoch, lieber Apfelbaum:
Moch' fleißig ihm die Cour!

In Engeland - in Engeland
Ist er gar sehr begehrt;
Zur Weihnachtszeit - zur Weihnachtszeit
Wird unter ihm beschert

Und was beschert der Mistelbusch?
Ei - - Küsschen lieb und süß!
Ich weiß es doch - ich weiß es doch -
Ich weiß es ganz gewiss!

Wir sind zwar nicht in Engeland,
Doch sehn wir gar nicht ein:
Warum darf unterm Mistelbusch
Nicht hier ein Kuss auch sein?

Darum, du lieber Apfelbaum:
Vertreib die Mistel nicht!
Bedenke,

dass manch Engelgruß
Mit ihr von dannen fliegt!"

"Engelgruß?" dachte der Baum. "So. Der Kuss ist also ein Gruß aus dem Engelland!" Und dabei gedachte der wilde Apfelbaum der warmen, zärtlichen Küsschen der Sonnenstrahlen.
Das Lied gefiel ihm, und er nahm sich vor, in Zukunft nicht mehr so schrecklich über seine Mistelgäste zu schelten. - - -
Inzwischen war es Herbst geworden. Vögel kamen, die brachten dem Baum keine Ständchen, sie machten sich nur über einige von den schönen, weißen, klebrigen Mistelbeeren her. So geht's in der Welt - einer zehrt immer vom andern und sagt meist nicht einmal "danke schön".
"Wünsche wohl gespeist zu haben. Und - hm! hm!" lachte der wilde Apfelbaum - "wohl bekomm's den Nachbarn!"
Die Vögel - Drosseln, Amseln waren es - wussten bestimmt nicht, dass man aus den Beeren der Mistel Vogelleim macht! Sonst hätten sie sich sicher gehütet, ihre klebrig schmutzigen Schnäbel just an den Baumzweigen abzuputzen und so die klebrigen Samen dort anzupflanzen! -
Es ist wahr: Die Herbststürme machten den Mistelbüschen gar nichts aus! Sie wussten ihre Blätter je nach ihm zu drehen wie die Wetterfahnen.
Auch die Kälte nachher schadete ihnen nichts. Aber! "Unkraut vergeht nicht" wagte der Apfelbaum doch nicht mehr recht zu sagen.
Es lag jetzt ein seltsames Träumen über diesen Gästen! Besonders an kalten Nebelabenden konnte man es gewahren. Nie ein schwacher, goldner Lichtschein lag es da über den Mistelbüschen. Vierzehn Tage vor Weihnachten kamen zwei Männer von der Allee herüber; die trugen eine Leiter, Körbe und ein scharfes Messer. Ritschratsch - war der Apfelbaumwirt seine lästigen Gäste los.
"Ob sie nun nach Engelland kommen?" dachte er.
Aber die Mistelbüsche kamen nicht nach Engelland - sie kamen in eine große, deutsche Stadt. Dort wurden sie in ein Körbchen gesteckt, neben rote Stechpalmen, und von einer Frau an einer Straßenecke zum Verkauf angeboten. Wie war ihnen - die bisher so ruhig und einsam auf freiem Felde gewohnt hatten - bei dem wüsten Straßenlärm zumute!
"Mistelzweige - wer kauft schöne Mistelzweige und Stechpalmen?" rief die Frau und bot den Vorübergehenden ihre Ware an. Die musste wohl gefallen, denn schon bevor der Abend kam, war das Körbchen der Frau geleert.
Die Mistelzweige und -büsche waren nun in viele Häuser verstreut.
"Wie eigenartig vornehm sie doch aussehn!" sagte eine Dame. "Diese feingrünen, schlanken Blätter - die mattschimmernden weißen Beeren! Nun ja; sie sind ja auch in einer Krone geboren! Beinahe sehen sie selbst aus wie eine gezackte kleine Krone. Die weißen Beeren sind die Perlen darin."
Darauf wurde ein großer Mistelbusch mit ein paar Stechpalmen und Tannenzweigen zusammen in eine Kristallschale mit Wasser gesteckt.
Das hatte der grüne Tannenbaum mit angesehen. "Was hast du hier zu schaffen - du Unkraut?" fragte er; es klang nicht allzu freundlich.
"Ich bin eine Heilige," sagte die Mistel. "Die Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter der Menschen hier haben mich heilig gesprochen, und ich habe an Weihnachten eine heilige Pflicht zu erfüllen."
"Du?" fragte sehr erstaunt der Tannenbaum - "Ich! Ich habe mich im Walde abhauen lassen und bin hierher gekommen, um in meinem immergrünen - hörst du wohl? auch im Winter noch grünen Kleide - den Menschen von einer großen, großen Liebe zu erzählen. Von einer Liebe, die - wie ich - immer frisch und grün bleibt; die immer da ist, selbst im kalten Winterschnee. Meine Kerzen werden dir heute Abend schon sagen, wie strahlend diese Liebe leuchtet. So strahlend wie das Sonnenlicht, das nun bald die dunkle Winternacht durchbrechen wird."
Die Mistel schwieg eine Weile. "So - auch du sollst vom Sonnenlicht erzählen?" fragte sie. Du - ich glaube aber, bei dir denken die Menschen doch mehr an die große Liebe! Die Sonnenstrahlen haben mir das einmal erzählt, Und so können wir unsere Pflichten ganz gut zusammen erfüllen. Sollst du von Liebe reden ich habe den Auftrag, die Menschen daran zu erinnern, dass nun die längste Nacht vorüber ist, dass Frau Sonne sich nun wieder der Erde zuwenden und jeden Tag ein bisschen länger und wärmer scheinen will. Dass sie schon ganz, ganz bald wieder anfangen will, die Saftfässer der Bäume zu füllen und dann die ersten Blumen - die Schneeglöckchen - aus ihren Bettchen herausholen will. Ist das nicht eine große Freude? Die Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter der Menschen hier feierten um diese Zeit ein großes Fest - das Fest der Sonnenwende. Aber wer denkt heute noch daran? Nur sehr, sehr wenige! Über dich - den Christbaum - werden hundert Geschichten geschrieben. Über mich nur ganz, ganz selten mal eine. Siehst du: und das ist meine Pflicht, die Menschen an das Fest der Wintersonnenwende zu erinnern! Und wenn du von so großer Liebe sprichst, so darfst du auch die Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßväter nicht vergessen."
Auf diese Rede konnte der Christbaum freilich nichts erwidern.
Als er aber am Abend - geschmückt mit Papierrosen, Sternen, Herzen, Ketten und goldenem Engelshaar dastand, als seine Lichter strahlten und die Weihnachtsglocken läuteten - - - da sagte er: "Wohlan, liebe Schwester - lass uns einig zusammen den Menschen ein fröhliches Weihnachten und Fest der Wintersonnenwende schenken!" - - -
Zu gleicher Stunde aber flog vom Himmel herab ein gar reizendes Englein. Seine weißen Flügel und seine blonden Löckchen schimmerten hell durch die Dunkelheit. Es flog über den Kirschbaum auf der Allee hinweg und setzte sich auf den wilden Apfelbaum im Felde. Gerade auf die Stelle, wo der große Mistelbusch gesessen hatte, hockte es sich hin.
"Ich soll dich grüßen von der Sonne und den Sonnenstrahlen", sagte es. Und dann hob es sein Geiglein und spielte dem Baum eine ganz wunderliebliche, leise, süße, weiche Weihnachtsmelodie.

Autor: Sophie Reinheimer

Mehr Besinnliche Weihnachtsgeschichten