Der kleine Lord
Der kleine Lord
Erstes Kapitel
Eine große Überraschung
Cedrik selbst wußte kein Sterbenswörtchen davon, nie war etwas Derartiges in seiner Gegenwart auch nur erwähnt worden. Daß sein Papa ein Engländer gewesen, wußte er, weil seine Mama ihm das gesagt hatte, aber dann war dieser Papa gestorben, als er noch ein ganz kleiner Junge gewesen, und ihm war von demselben nicht viel mehr in Erinnerung geblieben, als daß er eine hohe Gestalt und blaue Augen und einen langen, schönen Schnurrbart gehabt und daß es herrlich gewesen, auf seinen Schultern in der Stube herumzureiten. Nach des Vaters Tode hatte Cedrik dann die Entdeckung gemacht, daß es am allerbesten sei, mit der Mama gar nicht von ihm zu sprechen. Als der Papa erkrankte, war Cedrik fortgebracht worden, und als er wieder nach Hause kam, war alles vorüber gewesen, und sein Mütterchen, das auch eine schwere Krankheit durchgemacht, fing eben wieder an, in ihrem Lehnstuhle am Fenster zu sitzen; allein sie war bleich und mager und all die lustigen Grübchen waren aus ihrem hübschen Gesichte verschwunden; die Augen sahen so groß aus und so traurig, und ihr Kleid war ganz schwarz.
"Herzlieb," sagte Cedrik – so hatte sein Papa sie immer genannt, und der kleine Junge machte es ihm nach – "Herzlieb, geht's Papa besser?"
Er fühlte, wie ihr Arm zitterte, wandte plötzlich sein lockiges Köpfchen und sah ihr ins Gesicht, und als er sie so ansah, war's ihm, als ob er selbst bald zu weinen anfangen müsse.
"Herzlieb," fragte er noch einmal, "ist Papa wohl?"
Dann gab ihm sein kleines zärtliches Herz plötzlich ein, beide Aermchen um den Hals der Mutter zu schlingen und sie wieder und wieder zu küssen und seine weiche, warme Wange fest an die ihrige zu schmiegen, und sie drückte ihr Gesicht an seine Schulter und hielt ihn umschlungen, als ob sie ihn nie mehr von sich lassen wollte, und weinte bitterlich.
"Ja, ihm ist wohl," schluchzte sie; "ihm ist ganz, ganz wohl, aber wir – wir haben nichts mehr auf der Welt als einander. Keine Menschenseele sonst."
So klein er war, hatte er doch begriffen, daß sein großer, schöner, junger Papa nicht mehr wiederkommen werde, daß er tot sei, wie er es von andern Leuten auch schon hatte sagen hören, obwohl er nicht recht wußte, was das für ein seltsames Ding war, das so viel Herzeleid in seinem Gefolge hatte, und weil sein Mütterchen immer weinte, wenn er von dem Papa sprach, kam er ganz in aller Stille auf den Gedanken, daß es besser sei, nicht von ihm zu sprechen, und allmählich fand er auch, daß es besser sei, sie nicht ganz ruhig dasitzen und zum Fenster hinaus oder ins Feuer starren zu lassen. Bekannte hatten er und seine Mama nicht viele, und man konnte ihr Leben sehr einsam nennen, obgleich Cedrik davon keine Ahnung hatte, bis er älter wurde und man ihm dann sagte, weshalb sie keine Besuche erhielten. Er erfuhr dann, daß seine Mama eine Waise war und ganz allein in der Welt gestanden hatte, ehe sie Papas Frau geworden. Sie war sehr hübsch und hatte als Gesellschafterin bei einer reichen alten Frau gelebt, die nicht gütig gegen sie gewesen war. Eines Tages hatte Kapitän Cedrik Errol, der Besuch bei der Dame machte, sie die Treppe hinaufeilen sehen mit schweren dicken Thränentropfen an den langen Wimpern, und dabei hatte sie so unschuldig und traurig und wunderlieblich ausgesehen, daß der Kapitän es nicht mehr hatte vergessen können. Dann waren mancherlei merkwürdige Dinge geschehen, sie hatten einander kennen gelernt und hatten sich sehr lieb und wurden schließlich Mann und Frau, obwohl diese Heirat ihnen die Mißbilligung verschiedener Personen zuzog. Am meisten erzürnt darüber war der Vater des Kapitäns, der in England lebte und ein sehr reicher und vornehmer Herr von leidenschaftlicher Gemütsart und einer heftigen Voreingenommenheit gegen Amerika und die Amerikaner war. Kapitän Cedrik war der dritte Sohn und hatte also für sein Teil wenig Aussichten auf die äußerst bedeutenden Güter und Titel seines Hauses.
Die Natur verteilt ihre Güter jedoch nicht nach dem Erstgeburtsrecht, und es kommt vor, daß dritte Söhne Dinge besitzen, die den beiden älteren versagt sind. Cedrik Errol hatte ein hübsches Gesicht, eine kräftige, schlanke, elastische Gestalt, ein helles Lachen und eine weiche, fröhliche Stimme; er war tapfer, freimütig und hatte das beste Herz von der Welt, und es war, als ob ihm ein Zauber verliehen sei, der alle Menschen zu ihm zog und an ihn fesselte. Bei seinen älteren Brüdern war dem nicht so; der eine wie der andre war weder hübsch noch begabt, noch gutherzig. Als Knaben in der Schule zu Eton machten sie sich sehr unbeliebt; auf der Universität betrieben sie keinerlei Studien, vergeudeten Zeit und Geld und gewannen wenig Freunde. Was der Vater an ihnen erlebte, waren Enttäuschungen und Demütigungen; der Erbe seines edlen Namens machte demselben keine Ehre und versprach, nichts zu werden, als ein selbstischer, verschwenderischer unbedeutender Mensch ohne jegliche ritterliche Tugend. Es war sehr bitter für den alten Herrn, daß der Sohn, welcher die unbedeutende Stellung des Jüngsten einnahm und nur ein sehr mäßiges Vermögen erhalten konnte, alles besaß, was an Talent, Liebenswürdigkeit, Kraft und äußerer Erscheinung in seiner Familie zu entdecken war.
Zuweilen haßte er den frischen jungen Gesellen beinahe, der sich unterfing, all' die guten Dinge zu besitzen, die doch mit Fug und Recht zu dem großen Titel und dem herrlichen Besitztum gehört hätten, und doch hing sein stolzes, eigenwilliges altes Herz insgeheim unendlich an seinem Jüngsten. In einem derartigen Anfall von Gereiztheit war's, daß er ihn auf eine Reise nach Amerika geschickt hatte; Cedrik sollte ihm eine Zeitlang aus den Augen kommen, damit er nicht durch den immerwährenden Vergleich sich über das Treiben der beiden Aeltesten, die ihm gerade damals wieder viel zu schaffen machten, noch mehr aufzuregen brauchte.
Aber kaum war der Sohn ein halbes Jahr fort, als der alte Herr Sehnsucht nach ihm empfand und ihm den Befehl zur Heimkehr sandte. Dieser Brief kreuzte sich mit einem des jungen Mannes, in dem dieser dem Vater von seiner Liebe zu der hübschen Amerikanerin und seiner Absicht, dieselbe zu heiraten, sprach, was den Grafen in fürchterliche Wut versetzte. Wie entsetzlich seine Zornesausbrüche auch sein lebenlang, gewesen waren, so schrankenlos hatte er noch nie getobt, wie nach dem Empfang von Kapitän Cedriks Brief, und sein Kammerdiener, der eben im Zimmer war, machte sich auf einen Schlaganfall gefaßt. Eine Stunde lang raste er wie ein wildes Tier, dann setzte er sich hin und schrieb an seinen Sohn. Er verbot ihm, je wieder den Fuß in die Nähe seiner alten Heimat zu setzen oder an Vater und Brüder ein Wort zu schreiben; er könne leben, wie es ihm behage, und sterben, wo es ihm gefällig sei, von seiner Familie sei er für alle Zeiten geschieden und Hilfe oder Unterstützung habe er von seiten seines Vaters nie und nimmer zu gewärtigen.
Der Kapitän war tief betrübt über diesen Brief. Er hing an England und er liebte das schöne Heim, in dem er geboren war; er hatte sogar den übellaunischen, despotischen Vater lieb und hatte dessen Kümmernisse im stillen immer mitempfunden, aber er war sich vollkommen klar, daß er von nun an nichts mehr von ihm zu erwarten hatte. Erst wußte er kaum, was anfangen, denn er war ja nicht zur Arbeit erzogen und hatte keine Ahnung von Geschäften, dafür aber Mut und Entschlossenheit; er gab seine Stellung in der englischen Armee auf, fand, nach mancher Mühsal, Beschäftigung in New York und heiratete. Der Unterschied zwischen seinem einstigen und jetzigen Leben war groß, allein er war jung und glücklich und hoffte, bei harter Arbeit eine Zukunft zu haben. Er bewohnte ein kleines Häuschen in einer ruhigen abgelegenen Straße, und dort kam sein Junge zur Welt und alles war einfach und bescheiden, aber fröhlich und freundlich, so daß er es nie einen Moment bereute, die hübsche Gesellschafterin der reichen alten Dame geheiratet zu haben, einzig, weil sie ein süßes Geschöpf war und ihn lieb hatte und er sie. Sie war aber auch wirklich und wahrhaftig ein süßes Geschöpf, und ihr kleiner Junge glich Mutter und Vater, und wenn er auch in einem armseligen, weltentlegenen Häuschen geboren war, schien es doch nie ein glücklicheres Kind auf der Welt gegeben zu haben. In erster Linie war er allezeit gesund und munter, machte also keinerlei Sorge und Mühe, dann hatte er so ein liebes, reines Gemüt und war so ein herziger kleiner Mensch, daß jedermann Freude an ihm haben mußte, und zu dem allen war er so schön, daß man ihn immerfort anstaunen mußte wie ein wunderbares Bild. Statt als ein kahlköpfiges Baby auf der Bildfläche zu erscheinen, hielt er seinen Einzug als Weltbürger mit einer Fülle weichen, seidigen, golden schimmernden Haares, das sich nach sechs Monaten in leichten Locken um sein Köpfchen krauste; er hatte große braune Augen, lange Wimpern und ein herziges kleines Gesicht, ferner so kräftige Glieder, daß er mit neun Monaten plötzlich auf seinen kerzengeraden strammen Beinchen zu wandeln anfing, und dabei war er ein so gesittetes Baby, daß es eine Lust war, seine Bekanntschaft zu machen. Er schien davon auszugehen, daß jeder Mensch sein Freund sei, und sprach jemand mit ihm, wenn er in seinem Kinderwagen auf der Straße war, so pflegte er den Unbekannten erst ganz ernsthaft aus seinen braunen Augen anzuschauen, worauf dann sofort ein sonniges Lächeln folgte. Daher kam es denn auch, daß in der ganzen Nachbarschaft keine Menschenseele war – nicht einmal der Spezereihändler an der Ecke, und der war anerkannt der gröbste Mensch unter Gottes Sonne – die nicht eine Freude daran gehabt hätte, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen, und mit jedem Monat, den er älter wurde, ward er hübscher und lebendiger.
Als er groß genug war, mit seiner Kinderfrau auszugehen in einem kurzen, weißen Röckchen, mit einem großen, weißen Hut auf dem lockigen Haar, erregte er allgemeines Aufsehen, und die Wärterin hatte der Mama die längsten Geschichten zu erzählen von Damen, die ihre Wagen hatten anhalten lassen und ausgestiegen waren, um mit ihm zu sprechen, und die ganz entzückt gewesen waren, als er in seiner harmlosen, unbefangenen Art mit ihnen geplaudert hatte, als ob er sie von jeher gekannt. Diese seltsam unbefangene Art und Weise, mit jedermann Freundschaft zu schließen, gab ihm einen ganz eigenartigen Reiz. Er war eine offne, rückhaltslos vertrauende Natur, und sein warmes kleines Herz wollte, daß es allen so wohl zu Mute sein solle, wie ihm selbst, das war's, was ihn die Empfindungen derer, die um ihn waren, so merkwürdig schnell verstehen ließ. Vielleicht hatte sich dieser Zug auch mehr entwickelt, weil er immer mit Vater und Mutter lebte, die liebevoll, gütig und voll echter Herzensbildung waren; nie hörte er zu Hause ein unhöfliches oder rauhes Wort: von jeher wurde er mit Liebe und Zärtlichkeit behandelt und umgeben, und so strömte sein Kinderherz auch von Liebe und Wärme für andre über. Immer hatte er sein Mütterchen mit süßen Schmeichelnamen nennen hören, und deshalb sprach auch er nie anders mit ihr und von ihr; immer hatte er gesehen, daß sein Papa sie ängstlich behütete und für sie sorgte, und so lernte auch er ganz von selbst für sie sorgen. Und als er nun wußte, daß sein Papa nicht wiederkommen werde, und sah, wie traurig sie war, da entstand unbewußt in seinem kleinen Herzen das Gefühl, daß er nun alles thun müsse, um sie glücklich zu machen. Er war ja noch ein kleines Kind, aber dies Gefühl lebte in ihm, wenn er auf ihre Kniee kletterte und sie küßte und sein lockiges Köpfchen an ihre Wange drückte, oder wenn er ihr sein Spielzeug und seine Bilderbücher zum Ansehen brachte oder sich schweigend und regungslos neben sie kauerte, wenn sie auf dem Sofa lag.
Er war noch nicht alt genug, um andre Trostesmittel zu finden, aber er that sein Bestes, und er selbst hatte keine Vorstellung davon, wie wohl sein stilles Thun dem armen, vereinsamten Herzen that.
"O Mary!" hörte er seine Mama einmal zu der alten Dienerin sagen, "ich bin überzeugt, er will mir auf seine Weise helfen und mich trösten. Zuweilen sieht er mich an mit großen, verwunderten Augen voll tiefster Liebe, als ob ich ihm im Innersten leid thäte, und dann kommt er und streichelt mich oder zeigt mir etwas. Er ist so merkwürdig reif; ich bin überzeugt, er denkt so weit."
Als er heranwuchs, hatte er eine Menge wunderlicher Einfälle, die höchst ergötzlich waren, und wußte seine Mama so gut zu unterhalten, daß sie gar nicht nach andrer Gesellschaft verlangte; sie gingen miteinander spazieren und schwatzten und spielten zusammen. Er war noch ein ganz kleiner Bursche, als er lesen lernte, und hernach lag er abends auf dem Teppich vor dem Kamin und las vor – Kindergeschichten, zuweilen auch große Bücher, wie erwachsene Leute sie lesen, und hier und da sogar die Zeitung, und dabei hörte Mary in ihrer Küche Mrs. Errol manchmal hell auflachen über seine wunderlichen Bemerkungen: "Und, meiner Seel'," sagte Mary zu dem Spezereihändler, "so verstockt könnte keiner sein, daß er nicht lachen müßte über unsern Jungen, wenn er so altklug schwatzt. In der Nacht, wo der neue Präsident ernannt worden ist, kommt der Jung' zu mir in die Küch', stellt sich vors Feuer, die Händchen in den kleinen Taschen, wie ein Bild, sag' ich Ihnen, und mit so einer feierlichen Mien' wie ein Richter im Talar. Und dann sagt er zu mir: ›Mary,‹ sagt er, ›die Wahl 'tressiert miß sehr,‹ sagt er. ›Iß bin 'Publikaner und Herzlieb auch. Bist du auch 'Publikaner, Mary?‹ ›Thut mir leid,‹ sag' ich, ›aber ich bin just ein wenig von der andern Partei.‹ Da sieht er mich an, daß es einem ganz durch Mark und Bein geht, und sagt: ›Mary,‹ sagt er, ›die rißten ja das Land zu Grund.‹ Und seither ist kein Tag vergangen, wo er mir nicht zugeredet hat, zur andern Partei zu gehen."
Mary war sehr entzückt von "unserm Jungen" und sehr stolz auf ihn; sie war schon im Hause gewesen, als er zur Welt kam, und seit seines Vaters Tode war sie Köchin, Hausmädchen und Kinderfrau in einer Person. Sie war stolz auf den kräftigen, beweglichen, kleinen Kerl und sein nettes Benehmen, ganz besonders aber auf sein schimmerndes Haar, das in die Stirn hereingeschnitten war und in leichten Pagenlocken auf seine Schulter fiel. Um seine kleinen Anzüge machen zu helfen, war ihr früh und spät keine Mühe zu viel.
"'Ristokratisch, hm?" pflegte sie zu sagen. "Du lieber Gott, den Jungen auf der Fifth Avenue möcht' ich sehen, der so dreinschaut, seine Beine so setzt! Jeder Mensch, Mann und Weib und Kind, alles schaut ihm nach, wenn er den schwarzen Samtanzug anhat, den wir ihm aus meiner Frau ihrem alten Kleide zurecht gemacht haben, wenn er den Kopf so aufwirft und sein Lockenhaar fliegt! Accurat wie ein junger Lord sieht er aus."
Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er wie ein junger Lord aussah, er wußte auch durchaus nicht, was ein Lord war. Der vornehmste unter seinen Freunden war der Spezereihändler an der Ecke – der grobe Mann, der gegen ihn nie grob war. Er nannte sich Mr. Hobbs und war in Cedriks Augen sehr reich und eine höchst bedeutende Persönlichkeit, die er über die Maßen bewunderte; er hatte ja so viele Dinge in seinem Laden – Pflaumen und Feigen und Apfelsinen und Biskuits – und er hatte ein Pferd und einen Wagen. Cedrik mochte auch den Milchmann, den Bäcker und die Apfelfrau wohl leiden, aber Mr. Hobbs war doch obenan in seinem Herzen, und er stand auf so vertrautem Fuße mit ihm, daß er ihn jeden Tag besuchte und oft lange bei ihm saß, um die Tagesereignisse zu besprechen. Es war ganz merkwürdig, wieviel die beiden immer zu schwatzen hatten, über alles Mögliche. Der 4. Juli namentlich war ein Thema, über welches ihnen das Gespräch nie ausging. Mr. Hobbs hatte eine sehr geringe Meinung von den Engländern und er erzählte ihm die ganze Geschichte der Losreißung, wobei die Schändlichkeit des Feindes und die Tapferkeit der Aufständischen durch schlagende Beispiele beleuchtet wurden, schließlich trug er ihm noch einzelne Teile der Unabhängigkeitserklärung wörtlich vor. Cedrik war dann so aufgeregt, daß seine Augen leuchteten, seine Wangen glühten und all seine Locken eine wirre Masse waren; zu Hause konnte er die Mahlzeit kaum erwarten, um seiner Mama alles Gehörte wiederzugeben, und so war es entschieden Mr. Hobbs, dem er sein erstes Interesse für Politik zu danken hatte. Mr. Hobbs war auch ein eifriger Zeitungsleser, und daher erfuhr Cedrik so ziemlich alles, was in Washington vor sich ging, und wußte immer, ob der Präsident seine Schuldigkeit that oder nicht. Und bei der letzten Präsidentenwahl waren beide sehr erregt gewesen und ohne Mr. Hobbs und Cedrik wäre das Land womöglich aus den Fugen gegangen. Cedrik wurde dann auch zu einem Fackelzug mitgenommen, und mancher Fackelträger erinnerte sich nachher noch des untersetzten Mannes an dem Laternenpfahl mit dem blonden Knaben auf der Schulter, der so energisch sein Mützchen geschwungen und sein Hurra gerufen hatte.
Nicht lange nach dieser Wahl war es – Cedrik war nun zwischen sieben und acht Jahren alt – daß das seltsame Ereignis eintrat, welches sein Leben so ganz und gar umgestaltete. Merkwürdig war, daß er gerade an dem Tage mit seinem Freunde über England und die Königin gesprochen hatte, wobei Mr. Hobbs sich sehr hart über die Aristokratie geäußert und namentlich mit den britischen Grafen und Marquis streng ins Gericht gegangen war. Es war ein sehr heiterer Morgen, und Cedrik war, nachdem er mit ein paar Kameraden Soldaten gespielt hatte, zu Mr. Hobbs gegangen, um sich auszuruhen, und hatte denselben in entrüsteter Betrachtung der "London Illustrated News" gefunden, die eine Hofceremonie wiedergab.
"Ha," sagte er, "auf die Art treiben sie's nun, aber sie werden's schon eingetränkt kriegen eines schönen Tages, wenn die sich aufrichten, die sie jetzt mit Füßen treten, und das ganze Gelichter übern Haufen werfen – Herzöge und Grafen und all den Plunder! Das bleibt nicht aus; sie sollen sich nur vorsehen."
Cedrik saß wie gewöhnlich rittlings auf dem Comptoirstuhle, den Hut aus der Stirn gerückt, die Händchen in den Taschen, ganz Ohr.
"Haben Sie viele Marquis gekannt, Mr. Hobbs?" fragte er ernsthaft. "Oder viele Grafen?"
"Nein," erwiderte Mr. Hobbs mit Entrüstung, "ganz und gar nicht. Aber ich möchte wohl mal so einen hier in meiner Bude klein kriegen, dem wollte ich's klar machen, daß ich keine Räuber und Tyrannen auf meinen Biskuitkasten sitzen und bei mir herumlungern lassen will."
Dies Bewußtsein erhabenen Bürgerstolzes erfüllte ihn mit großer Befriedigung, und er wischte sich die Stirn mit einem siegreichen Herrscherblick auf seine Kisten.
"Vielleicht sind sie nur Grafen, weil sie es eben nicht besser wissen," bemerkte Cedrik, in dessen kleinem Herzen ein gewisses Mitgefühl für die Unglücklichen aufstieg.
"Weil sie's nicht besser wissen!" sagte Mr. Hobbs. "Da bist du ganz auf dem Holzwege, sie bilden sich ja noch Wunder was darauf ein, die Kuckucksbrut!"
Mitten in dieser Unterhaltung erschien Mary. Cedrik nahm erst an, sie werde irgend einen kleinen Bedarf für den Haushalt holen, dem war aber nicht so; sie sah sehr aufgeregt aus und war so bleich, wie man es bei ihrem Teint kaum für möglich gehalten hätte.
"Komm heim, Liebling," sagte sie, "die Mama will's haben."
Cedrik glitt von seinem erhabenen Sitze herunter.
"Soll ich mit der Mama ausgehen, Mary?" fragte er. "Guten Tag, Mr. Hobbs. Ich komme ein andermal."
"Was ist denn geschehen, Mary?" forschte er unterwegs. "Ist's die Hitze?"
"Nein, nein," sagte Mary, "Gott, was bei uns für Geschichten passieren!"
"Hat denn Herzlieb Kopfweh von der Sonne?" fragte der kleine Mann, nach und nach ängstlich werdend.
Das war's aber auch nicht. Als sie das Haus erreicht hatten, stand ein Wagen davor und im Wohnzimmer war jemand bei Mama; Mary zog ihn eilends die Treppe hinauf, steckte ihn in sein bestes Gewand, den weißen Flanellanzug mit der roten Schärpe, und bürstete seine Haare glatt.
"Ein Lord!" sprach sie dabei vor sich hin. "Lord war's ja doch! Ach, und die Verwandtschaft. Hol sie der Kuckuck! Lord und Graf, jawohl, um so schlimmer!"
Das war wirklich alles sehr seltsam, allein er wußte ja ganz gewiß, daß seine Mama ihm alles erklären würde, und so ließ er Mary ungestört ihren Gedanken nachhängen. Als er umgekleidet war, lief er die Treppe hinunter und geradeswegs ins Wohnzimmer. Ein großer, magerer alter Herr mit einem scharfgeschnittenen Gesichte saß im Lehnstuhl, seine Mama stand daneben, sie war sehr blaß, und er bemerkte auf den ersten Blick, daß sie Thränen in den Augen hatte.
"O Ceddie!" rief sie, ihrem kleinen Jungen entgegeneilend und ihn scheu und erregt ans Herz drückend. "Ceddie, mein Herzenskind!"
Der große alte Herr stand auf und sah den Knaben scharf an, wobei er sein spitzes Kinn mit der fleischlosen Hand rieb. Der Eindruck schien ihn übrigens zu befriedigen.
"So so," sprach er langsam, "das ist also der kleine Lord Fauntleroy."
Zweites Kapitel
Cedriks Freunde
In der Woche, die nun folgte, gab es wohl keinen erstaunteren und verblüffteren kleinen Jungen als Cedrik; die ganze Woche war aber auch höchst seltsam und unwahrscheinlich. Erstens einmal war die Geschichte, die seine Mama ihm erzählte, eine ganz wunderliche, und er mußte sie zwei- oder dreimal hören, bis er sie verstand, was aber Mr. Hobbs davon halten würde, darüber war er sich auch dann noch nicht klar. Die Geschichte fing mit Grafen an, sein Großvater, den er nie gesehen hatte, war ein solcher, und sein ältester Onkel wäre dann später ein Graf geworden, wenn er nicht durch einen Sturz vom Pferde getötet worden wäre, nach einem Tode hätte dann sein zweiter Onkel Graf werden sollen, der war aber in Rom ganz plötzlich am Fieber gestorben. Nun wäre es schließlich an seinem eignen Papa gewesen, den Titel zu bekommen, da aber alle tot waren und niemand übrig, kam es zu guter Letzt darauf hinaus, daß er nach seines Großvaters Tode der Graf und Erbe werden würde – und jetzt für den Augenblick war er Lord Fauntleroy.
Als er dies zuerst erfuhr, ward er ganz bleich.
"O Herzlieb!" sagte er, "ich möchte lieber kein Graf sein. Keiner von den andern Jungen ist ein Graf. Kann ich nicht keiner sein?"
Die Sache schien sich jedoch nicht umgehen zu lassen, und als er abends mit seinem Mütterchen am Fenster saß und in die armselige Straße hinausblickte, sprachen sie lange und eingehend darüber. Cedrik saß auf seiner Fußbank, das eine Bein übergeschlagen, wie es seine Lieblingsstellung war, und sein kleines Gesicht war ein wenig verstört und ganz rot vor lauter Nachdenken. Sein Großvater wollte, daß er nach England kommen solle, und hatte deshalb den alten Herrn geschickt.
"Ich weiß, daß dein Papa sich darüber freuen würde," sagte seine Mama, die traurigen Augen dem Fenster zugewendet. "Sein Herz hing sehr an seiner Heimat, und dann sind dabei auch noch viele Dinge zu bedenken, die du noch nicht verstehen kannst, mein Kind. Ich würde eine sehr selbstsüchtige Mama sein, wenn ich dich nicht reisen ließe – das wirst du alles begreifen, wenn du erst erwachsen bist."
Cedrik schüttelte wehmütig das Köpfchen. "Es thut mir so leid, wenn ich von Mr. Hobbs fort muß," sagte er. "Ich habe Angst, er wird mich vermissen und er wird mir sehr fehlen – er und all die andern."
Als Mr. Havisham, welcher der langjährige Sachwalter des Grafen Dorincourt war, und der die Mission hatte, Lord Fauntleroy nach England zu bringen, am nächsten Tage wiederkam, erfuhr Cedrik sehr viel Neues, allein es war ihm gar nicht sehr tröstlich, zu erfahren, daß er dereinst ein sehr reicher Mann sein und hier ein Schloß und dort ein Schloß, große Parks, Bergwerke und Ländereien und viele Dienerschaft besitzen werde. Er war sehr bekümmert im Gedanken an seinen Freund, Mr. Hobbs, und bald nach dem Frühstück suchte er ihn voll Herzensangst in seinem Laden auf.
Er fand ihn die Zeitung lesend und trat ihm mit ernster Miene gegenüber: er wußte ja, daß das, was ihm widerfahren, für Mr. Hobbs ein herber Schlag sein mußte, und er hatte sich's unterwegs genau überlegt, wie er ihm die Sache beibringen wollte.
"Hallo!" sagte Mr. Hobbs. "'Morgen!"
"Guten Morgen," sagte Cedrik. Er kletterte nicht wie sonst auf seinen hohen Stuhl, sondern setzte sich auf einen Biskuitkasten und schlug die Beine übereinander und schwieg so lange, bis Mr. Hobbs fragend über sein Zeitungsblatt hinüber nach ihm hinschielte.
"Hallo!" sagte er noch einmal.
Cedrik faßte sich ein Herz.
"Mr. Hobbs," begann er, "wissen Sie noch, von was wir gestern vormittag gesprochen haben?"
"Hm, ja, von England dächt' ich."
"Freilich, aber gerade als Mary hereinkam, wissen Sie das noch?"
Mr. Hobbs rieb sich den Hinterkopf.
"Wir diskurierten über die Königin und die ›'Ristokraten‹."
"Ja," sagte Cedrik zögernd, "und, und über die Grafen; wissen Sie noch?"
"Jawohl," erwiderte Mr. Hobbs, "die kamen schlecht weg dabei, wie sich's gehört!"
Cedrik ward rot bis unter sein lockiges Stirnhaar, in solcher Verlegenheit hatte er sich im Leben noch nie befunden und dabei ängstigte ihn das Gefühl, daß die Sache auch für Mr. Hobbs nicht ohne Verlegenheit ablaufen werde.
"Ja, und Sie sagten," fuhr er fort, "daß Sie keinen von den 'Ristokraten auf Ihren Biskuitkisten herumsitzen lassen würden."
"Das will ich meinen!" bestätigte Mr. Hobbs seinen Ausspruch mit Ueberzeugung. "Soll nur 'mal einer kommen, dem werd' ich's zeigen."
"Mr. Hobbs," sagte Cedrik schüchtern, "es sitzt aber einer auf dieser Kiste!"
Um ein Haar wäre Mr. Hobbs vom Stuhle gefallen.
"Was?" rief er.
"Ja," erklärte Cedrik in gebührender Demut, "ich bin einer oder werde wenigstens später einer werden. Ich will Sie nicht hintergehen."
Mr. Hobbs sah ganz alteriert aus; er erhob sich plötzlich und sah nach dem Thermometer.
"Muß wohl so was wie ein Sonnenstich sein," erklärte er, seinen kleinen Freund scharf ins Auge fassend. "Die Hitze ist auch danach! Hast du Schmerzen? Seit wann fühlst du den Zustand?"
Er legte seine breite Hand auf des Knaben Haupt, und dieser war mehr denn je in Verlegenheit.
"Danke, danke," sagte Cedrik, "ich bin ganz wohl und in meinem Kopfe ist alles in Ordnung, Es thut mir ja so leid, aber alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist wahr, Mr. Hobbs; deshalb hat mich ja Mary gestern geholt, und Mr. Havisham hat meiner Mama alles gesagt und er ist ein Advokat."
Mr. Hobbs sank in seinen Sessel und trocknete sich die Stirn mit seinem Taschentuch.
"Einer von uns beiden hat den Sonnenstich!" rief er.
"Nein," versetzte Cedrik, "sicher nicht. Wir müssen uns eben drein finden, Mr. Hobbs. Mein Großpapa hat Mr. Havisham den ganzen Weg von England herübergeschickt, um uns das alles zu sagen."
Mr. Hobbs starrte ganz bestürzt in das unschuldige, ernsthafte, kleine Gesicht vor ihm.
"Wer ist dein Großvater?" fragte er endlich.
Cedrik griff in seine Tasche und zog mit großer Sorgfalt einen kleinen Papierstreifen hervor, auf welchem in großen, unbeholfenen Buchstaben etwas geschrieben stand.
"Ich habe mir's nicht recht merken können, deshalb hab' ich's aufgeschrieben," sagte er und las langsam: "John Arthur Molyneux Errol Graf Dorincourt! So heißt er und er wohnt in einem Schloß – in ein paar Schlössern, glaub' ich. Und mein Papa, der gestorben ist, war sein jüngster Sohn; und ich wäre kein Graf geworden und kein Lord, wenn mein Papa nicht gestorben wäre, und mein Papa wäre auch kein Graf geworden, wenn seine beiden Brüder nicht gestorben wären. Aber die sind alle tot, und ist gar keiner da außer mir – kein Junge – deshalb muß ich der Graf werden, und mein Großpapa hat jemand geschickt, der mich nach England abholen soll."
Mr. Hobbs schien es immer heißer zu werden, er wischte seine Stirn und seinen kahlen Schädel und schnaubte und pustete ganz fürchterlich. Daß hier ein sehr merkwürdiges Ereignis vorlag, fing an, ihm aufzudämmern, wenn er dann aber wieder den kleinen Jungen auf der Biskuitkiste ansah mit den ängstlichen, unschuldigen Kinderaugen, an dem so ganz und gar nichts verändert zu sein schien, sondern der ganz der nämliche hübsche, fröhliche kleine Kerl war in seinem schwarzen Röckchen mit der roten Krawatte, wie er am Tage vorher auch da gesessen, so überwältigte ihn diese Geschichte von Adel und Titeln immer wieder aufs neue, und weil Cedrik sie mit solcher Einfachheit und Unbefangenheit wiedergab, offenbar ohne sich selbst einen Begriff von ihrer Tragweite zu machen, steigerte sich seine Verblüffung immer mehr.
"Und, und wie hast du gesagt, daß du jetzt heißest?" fragte Mr. Hobbs.
"Cedrik Errol, Lord Fauntleroy," erwiderte der arme kleine Edelmann. "So nennt mich Mr. Havisham; als ich ins Zimmer trat, hat er gesagt: ›So, so, das ist also der kleine Lord Fauntleroy.‹"
"Da will ich mich doch gleich räuchern lassen!"
Dies war eine bei Mr. Hobbs in Fällen großer Gemütsbewegung sehr beliebte Redewendung, und in diesem aufregenden Moment fiel ihm eben gar nichts andres ein. Cedrik war auch weit entfernt, darin etwas Ungeeignetes zu sehen; seine Verehrung und Bewunderung für Mr. Hobbs waren so fest gegründet, daß er die Richtigkeit seiner Bemerkungen blindlings anerkannte, auch hatte er noch zu wenig von Gesellschaft gesehen, um zu wissen, daß Mr. Hobbs nicht gerade korrekt war. Daß er ganz anders war als seine Mama, fühlte er freilich, aber Mama war eben eine Dame, und daß Damen und Herren verschieden geartete Wesen, war ihm selbstverständlich.
Er sah Mr. Hobbs sehr ernsthaft an.
"England ist weit weg, nicht wahr?" fragte er.
"Ueberm Atlantischen Ozean drüben, einfach," erläuterte Mr. Hobbs.
"Das ist das Schlimmste an der Sache," sagte Cedrik traurig. "Vielleicht sehe ich Sie da lange nicht mehr – mag gar nicht dran denken, Mr. Hobbs."
"Auch die besten Freunde müssen scheiden," erwiderte Mr. Hobbs feierlich.
"Wir sind nun schon viele, viele Jahre Freunde, nicht wahr?"
"Seit du auf der Welt bist. Sechs Wochen, schätz' ich, warst du alt, da machtest du deinen ersten Ausflug auf die Straße."
"Ach," bemerkte Cedrik mit einem tiefen Seufzer, "damals dachte ich noch nicht, daß ich einmal ein Graf werden sollte."
"Du meinst also, es sei keine Möglichkeit, aus der Patsche zu kommen?"
"Keine, fürcht' ich; Mama sagt, daß es Papas Wunsch sein würde, daß ich gehe. Aber wenn ich auch ein Graf sein muß, so bleibt mir doch eins – ich kann versuchen, ein recht guter zu werden; ein Tyrann werde ich gewiß nicht. Und wenn wieder ein Krieg mit Amerika kommt, so werde ich dem ein Ende machen, wenn ich kann."
Es folgte nun eine eingehende, ernsthafte Besprechung mit Mr. Hobbs über den politischen Gesichtspunkt der Sache. Nachdem der würdige Mann den ersten Schreck überwunden hatte, zeigte er sich weit milder, als zu erwarten gewesen, that sein Möglichstes, die Sache von der guten Seite zu nehmen, und stellte eine Menge Fragen. Da Cedrik nur einen kleinen Teil derselben beantworten konnte, suchte er dies selbst zu vollbringen, und als er einmal im Zuge war, verkündigte er über Erbrecht, Grafentitel und Familiengesetze Dinge, die Mr. Havisham in großes Erstaunen gesetzt haben würden.
Mr. Havisham erlebte überhaupt viel Erstaunliches. Er hatte sein ganzes Leben in England zugebracht, und amerikanische Sitten und Menschen waren ihm vollkommen fremd. Seit beinahe vierzig Jahren stand er in Geschäftsverbindung mit der Familie des Grafen Dorincourt, kannte alle Verhältnisse und Besitztümer des Hauses aus- und inwendig und empfand in seiner kühlen, geschäftsmäßigen Weise ein gewisses Interesse für den kleinen Jungen, der einst Herr und Gebieter über alles sein sollte. Alle Enttäuschungen, welche die älteren Söhne dem Vater bereitet, hatte er miterlebt, hatte des Grafen Entrüstung über Kapitän Cedriks Heirat mitangesehen und mußte, wie der alte Herr die kleine Witwe haßte, und in welch bittern, harten Worten er von ihr zu sprechen pflegte. Sie war in seinen Augen nun ein für allemal nichts als eine ungebildete Amerikanerin, die seinen Sohn ins Netz gelockt, weil sie gewußt hatte, welch einer Familie er angehörte, und Mr. Havisham teilte diese Auffassung so ziemlich, denn er hatte ja im Leben genug käufliche und berechnende Seelen kennen gelernt, und von den Amerikanern hielt er ohnehin nicht viel. Als der Kutscher ihn nach seiner Ankunft in die entlegene ärmliche Straße und vor das elende kleine Haus gefahren hatte, war er ganz entsetzt gewesen: daß der künftige Besitzer von Schloß Dorincourt und Wyndham Towers und Chorlworth und all den andern stattlichen Gütern hier geboren und groß gewachsen sein sollte, verletzte auch sein Selbstgefühl.
Er war sehr gespannt, welcher Art Mutter und Kind sein würden, und es bangte ihm vor der Begegnung: er war stolz auf das vornehme alte Haus, dessen Angelegenheiten so lange schon die seinigen waren, und es hätte ihn im Innersten peinlich berührt, wenn er mit einer niedrig denkenden, geldgierigen Frau zu thun bekommen hätte, die für ihres verstorbenen Mannes Stellung und Ehre kein Gefühl gehabt. Handelte es sich doch um einen alten Namen und um einen glänzenden, für den Mr. Havisham sich trotz aller Kühle und geschäftsmännischen Nüchternheit einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren konnte.
Als Mary ihn in den kleinen Salon geführt hatte, warf er einen kritischen Blick um sich. Die Einrichtung war einfach, aber wohnlich; nirgends waren geschmacklose, billige Spielereien oder Farbendrucke an den Wänden; der wenige Wandschmuck war durchaus künstlerischer Art und eine Menge hübscher Kleinigkeiten, die von weiblicher Hand herrührten, machten den Raum behaglich.
"So weit nicht übel," sagte der alte Herr zu sich selbst, "da hat aber wohl des Kapitäns Geschmack den Ausschlag gegeben." Als jedoch Mrs. Errol ins Zimmer trat, konnte er nicht umhin, zu denken, daß möglicherweise auch der ihrige maßgebend gewesen sein könnte. Wäre er nicht ein gar so steifer, zurückhaltender Geschäftsmann gewesen, so würde er vermutlich seine Ueberraschung bei ihrem Anblick nicht verborgen haben; sie sah in dem schlichten schwarzen Gewande, das sich eng um ihre zarte Gestalt schmiegte, weit eher wie ein junges Mädchen, als wie die Mutter eines siebenjährigen Jungen aus; ihr Gesichtchen war hübsch, und in den großen braunen Augen lag ein Blick voll Unschuld und Innigkeit, dabei aber auch von unsäglicher Traurigkeit, die nicht mehr von ihr gewichen war, seit sie ihren Mann verloren. Cedrik hatte sich ganz an die traurigen Augen gewöhnt, und zuweilen sah er sie doch auch fröhlich aufleuchten, das war aber nur, wenn er mit ihr spielte oder plauderte oder irgend etwas Altkluges sagte oder eins von den langen Fremdwörtern gebrauchte, die er bei Mr. Hobbs oder aus der Zeitung aufschnappte. Er gebrauchte gern so lange Wörter und er freute sich auch, wenn seine Mama darüber lachte, obwohl er nicht begriff, was sie daran komisch fand, denn ihm war es voller Ernst damit. Der Anwalt hatte in seiner langen Praxis Gesichter vom Blatt lesen gelernt und wußte auf den ersten Blick, daß er und der Graf sich mit ihren Voraussetzungen gründlich getäuscht hatten. Mr. Havisham war nie verheiratet, ja nicht einmal verliebt gewesen, aber er fühlte, das dies junge Geschöpf mit der süßen Stimme und den traurigen Augen Kapitän Errol geheiratet hatte, weil sie ihn mit aller Kraft ihrer Frauenseele geliebt, und daß sie auch nicht ein einzigmal daran gedacht hatte, wessen Sohn er sei. Und er wußte nun auch, daß sie ihm keine Schwierigkeiten bereiten werde, und daß möglicherweise dieser kleine Lord Fauntleroy seiner Familie nicht so viel Kummer machen werde, als man erwartet hatte; der Kapitän war ein hübscher Mann gewesen, die Mutter war sehr hübsch, vielleicht war der Junge auch zum Ansehen.
Als er Mrs. Errol die Veranlassung seines Kommens auseinandergesetzt hatte, ward sie leichenblaß.
"Ach," sagte sie leise, "wird es nötig sein, ihn von mir zu trennen? Wir hängen so sehr aneinander! Er ist mein ganzes Glück, meine ganze Welt. Ich habe immer mein Bestes gethan, ihm eine gute Mutter zu sein!" Und die weiche junge Stimme zitterte, und Thränen traten in ihre Augen. "Sie wissen nicht, was das Kind mir gewesen ist," setzte sie halblaut hinzu.
Der alte Herr räusperte sich.
"Es ist meine peinliche Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Graf Dorincourt Ihnen nicht – nicht freundlich gesinnt ist. Der Graf ist alt und ein Mann von starken Vorurteilen; Amerika und die Amerikaner sind ihm stets besonders zuwider gewesen, weshalb ihn auch seines Sohnes Heirat so aufgebracht hat. Ich bedaure, der Ueberbringer eines so unerfreulichen Auftrages zu sein, allein der Graf ist entschlossen, Sie nicht zu sehen. Sein Wunsch ist, Lord Fauntleroy unter seiner persönlichen Aufsicht erziehen zu lassen, ihn bei sich zu haben; der Graf hängt sehr an Schloß Dorincourt und bringt den größten Teil des Jahres dort zu; er ist häufig schmerzhaften Gichtanfällen unterworfen und liebt London gar nicht; Lord Fauntleroy würde demzufolge also auch hauptsächlich in Dorincourt zu bleiben haben. Ihnen bietet der Graf als Wohnung ein Landhaus, Court Lodge, an, das in der Nähe von Dorincourt sehr hübsch liegt, selbstverständlich mit entsprechendem Jahreseinkommen. Lord Fauntleroy darf Sie besuchen, die einzige Beschränkung ist, daß Sie ihn nicht besuchen, den Park überhaupt nicht betreten: es wird also thatsächlich keine Trennung von Ihrem Sohne sein, und ich versichere Sie, gnädige Frau, daß diese Bedingungen unter den einmal gegebenen Verhältnissen recht günstig für Sie sind. Sie werden selbst einsehen, daß es für Lord Fauntleroy von großer Bedeutung ist, in solcher Umgebung aufzuwachsen und eine derartige Erziehung zu genießen."
Es war Mr. Havisham etwas unbehaglich zu Mute, da er eine Szene oder wenigstens einen Thränenausbruch vorhersah und es zum Peinlichsten für ihn gehörte, Frauen weinen zu sehen. Nichts derart erfolgte; die junge Frau trat ans Fenster und sah einige Augenblicke hinaus, um sich zu fassen und zu sammeln.
"Kapitän Errol hing sehr an Dorincourt," sprach sie endlich, "Er liebte sein Vaterland und seine Heimat und es war ihm immer schmerzlich, daraus verbannt zu sein. Er war stolz auf sein Elternhaus und seinen Namen. Sein Wunsch wäre es, das weiß ich, daß sein Sohn das schöne, stolze Heim kennen lernen und seiner künftigen Stellung gemäß erzogen werden sollte."
Sie trat wieder zum Tische und blickte unendlich sanft und ergeben zu Mr. Havisham auf.
"Mein Mann würde es so haben wollen," sagte sie einfach, "und es wird wohl für den Knaben das Richtige sein. Ich weiß – ich bin überzeugt, daß der Graf nicht so grausam sein wird, mir des Kindes Liebe entziehen zu wollen, und ich weiß auch, daß, selbst wenn er das thun wollte, mein Junge viel zu sehr seinem Vater ähnlich ist, um sich beeinflussen zu lassen: er hat viel Gemüt und ein treues, liebes Herz. Er würde mich lieb haben, auch wenn er mich nicht sehen könnte, und solange wir uns hin und wieder sehen dürfen, werde ich's ja wohl ertragen können."
"Sie denkt nicht viel an sich selbst," bemerkte der Advokat im stillen. "Sie stellt keinerlei Bedingungen für ihre Person."
"Gnädige Frau," sprach er dann, "ich weiß Ihre selbstlose Rücksicht auf Ihren Sohn zu schätzen, und er selbst wird Ihnen einst als Mann Dank dafür wissen. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Lord Fauntleroy die sorgfältigste Pflege und Erziehung genießen wird, und daß Graf Dorincourt ihn so ängstlich behüten wird, wie nur Sie selbst es könnten."
"Ich hoffe nur," sagte die weichherzige kleine Mutter mit erstickter Stimme, "daß sein Großvater Ceddie lieb haben wird. Er hat ein weiches, zärtliches Herz und ist an viel Liebe gewöhnt."
Mr. Havisham mußte sich abermals räuspern; er konnte sich nicht recht vorstellen, daß der jähzornige, hochfahrende, rücksichtslose alte Herr in seinem Gichtstuhl irgend jemand lieb haben könnte, allein er wußte ja, daß es in dessen Interesse lag, auf seine mürrische Art und Weise gut zu sein gegen seinen künftigen Erben, und er wußte überdies, daß, im Falle das Kind seinem Namen Ehre machte, der Graf stolz auf den Jungen sein würde.
"Lord Fauntleroy wird nichts entbehren, dessen bin ich gewiß," versetzte er; "einzig in Rücksicht auf das Glück des Kindes wünschte der Graf, daß Sie nahe genug leben, um ihn täglich zu sehen."
Mr. Havisham hielt es nicht für angemessen, die Ausdrücke, in welchen der Graf diesen Beschluß motiviert hatte, hier wörtlich zu wiederholen, sondern zog es vor, seines Auftraggebers Anerbieten in eine höflichere und mildere Form zu kleiden.
Von neuem wurde ihm etwas bänglich zu Mute, als Mrs. Errol Mary hereinrief und ihr den Befehl erteilte, den Jungen zu suchen.
"Wird nicht schwer zu finden sein," erklärte diese, "der sitzt bei Mr. Hobbs an der Ecke auf dem hohen Stuhle an der Kasse und schwatzt von Politik oder thut sich sonstwie herum amüsieren unter der Seife oder den Lichtern oder derlei Zeug, seelenvergnügt wie alleweil."
"Mr. Hobbs kennt ihn, seit er auf der Welt ist," erklärte Mrs. Errol. "Er ist sehr gütig gegen Ceddie und die beiden sind große Freunde."
Zufällig hatte Mr. Havisham im Vorüberfahren einen Blick auf das nicht sehr elegante Geschäft mit den offnen Kartoffelsäcken, Apfelfässern und dem hunderterlei Krimskrams geworfen und fühlte nun von neuem ernste Zweifel in sich aufsteigen. In England pflegen die Kinder vornehmer Eltern keinen Verkehr in Kramläden zu haben, und die Sache kam ihm nicht unbedenklich vor. Schlechte Manieren und Hang zu untergeordneter Gesellschaft wären höchst mißlich an dem Jungen; denn gerade die Neigung zu niedrigem Verkehr hatte den Grafen an seinen beiden ältesten Söhnen so tief verletzt. War es denkbar, daß der Junge derartige Anlagen von seinen Onkeln überkommen hätte statt der liebenswürdigen Eigenschaften des Vaters?
In großer innerer Unruhe setzte er sein Gespräch mit Mrs. Errol fort, bis das Kind kam, und als die Thür aufging, scheute Mr. Havisham sich förmlich, einen Blick auf Cedrik zu werfen. Für viele Leute, die den trefflichen Mann im Leben lange kannten, wäre es äußerst interessant gewesen, zu beobachten, was in ihm vorging, als er den Jungen auf seine Mutter zueilen sah – der Umschlag in seinen Gefühlen war derart, daß er ihn förmlich erschütterte. Im ersten Augenblick erkannte er, daß der kleine Geselle hübscher und vornehmer war, als er je einen gesehen, und dabei hatte seine Erscheinung etwas ganz Eigenartiges. Die kleine Gestalt war voll Anmut, Kraft und Energie; sein Köpfchen trug er hoch, und in der ganzen Haltung lag eine gewisse Tapferkeit; seinem Vater sah er überraschend ähnlich; von ihm hatte er das goldne Lockenhaar, von der Mutter die großen braunen Augen, nur daß in den seinigen auch kein Schimmer von Schüchternheit oder Trauer lag, sondern sie so unschuldig und unerschrocken in die Welt hineinschauten, als sollte ihr Träger Furcht und Sorge nie kennen lernen.
"Der hübscheste kleine Bursche, den ich je gesehen habe, und Rasse hat der Junge," dachte Mr. Havisham bei sich, während er nichts verlauten ließ als die Worte: "Also das ist der kleine Lord Fauntleroy?"
Und je häufiger er diesen Lord Fauntleroy sah und um sich hatte, desto mehr steigerte sich sein Erstaunen; er hatte zwar in England reichlich Gelegenheit gehabt, Kinder zu sehen, hübsche, rosige kleine Mädchen und Knaben, die von Erzieherinnen und Hauslehrern korrekt am Gängelbande geführt wurden und die zum Teil scheu und schüchtern, zum Teil sehr geräuschvoll und zudringlich waren, allein großes Interesse hatten sie alle dem förmlichen, ernsthaften Advokaten nicht abgewonnen, und so hatte er in Wirklichkeit sehr wenig Erfahrung in Bezug auf kleine Leute. Vielleicht machte ihn sein persönliches Interesse an Lord Fauntleroys Geschick mehr zur Beobachtung geneigt! aber wie dem auch sei, er fand sehr viel Bemerkenswertes an dem Knaben.
Cedrik hatte keine Ahnung davon, daß er ein Gegenstand der Beobachtung war, und gab sich ganz wie immer. Mit seiner gewöhnlichen Herzlichkeit streckte er Mr. Havisham sein Händchen hin, als er ihm vorgestellt wurde, und antwortete auf alle Fragen mit der nämlichen Freimütigkeit und Unbefangenheit, die in seinem Verkehr mit Mr. Hobbs herrschten.
Er war weder schüchtern noch keck, und dem Advokaten fiel auf, daß er seinem Gespräch mit Mrs. Errol mit der vollen Aufmerksamkeit eines Erwachsenen folgte.
"Scheint ein frühreifes Kind zu sein," bemerkte er gegen die Mutter.
"In manchen Beziehungen, ja," erwiderte sie. "Er hat immer rasch begriffen und schnell gelernt und auch sehr viel mit Erwachsenen gelebt. Sehr komisch ist seine Vorliebe, allerhand lange Wörter oder Redensarten, die er irgendwo gelesen, wieder anzubringen; aber er hat auch ebensoviel Freude an Kinderspielen. Er ist ziemlich begabt, glaube ich, dabei aber ein richtiger wilder Junge."
Bei seiner nächsten Begegnung mit ihm hatte Mr. Havisham Gelegenheit, sich von der Richtigkeit dieses Ausspruches zu überzeugen. Als am Tage darauf sein Coupé in die Straße einbog, fiel ihm plötzlich eine Gruppe kleiner Jungen in die Augen, die sichtlich in großer Erregung waren. Zwei davon standen im Begriff, einen Wettlauf zu unternehmen, und in einem derselben erkannte Mr. Havisham den jungen Lord, der an Kreischen und Lärmen keineswegs hinter seinen Kameraden zurückblieb. Er stand neben seinem Rivalen, das eine Bein im roten Strumpf schon sprungbereit ausgestreckt.
"Auf ›eins‹ macht euch fertig," rief der Starter mit gellender Stimme, "zwei – tretet vor – auf drei – los!"
Mr. Havisham fand das Interesse, mit dem er sich aus dem Wagenfenster beugte, selbst äußerst komisch; aber er hatte auch wirklich in seinem Leben nichts gesehen, wie die Art und Weise, in der die roten Beine Seiner kleinen Herrlichkeit in die Luft flogen, nachdem er sich auf das gegebene Zeichen in Bewegung gesetzt hatte. Die Händchen hielt er fest geschlossen, den Oberkörper vorgebeugt und seine blonde Mähne flog um ihn her.
"Hurra, Ced Errol!" brüllten die Jungens unter lautem Händeklatschen. "Hurra, Billy Williams! Hurra, Ceddie! Hurra, Bill! Hurra–ra–ra!"
"Ich glaube wahrhaftig, er gewinnt!" sagte Mr. Havisham, der wirklich nicht ohne Erregung die roten Beine auf und nieder fliegen sah, denen die gar nicht zu verachtenden braunen von Billy in bedenklicher Nähe folgten. "Ich möchte wahrhaftig – ich wünsche, daß er den Sieg davonträgt," setzte er mit einem entschuldigenden Husten hinzu.
In diesem Augenblick erklang ein wildes, gellendes Geschrei aus den Kinderkehlen; mit einem letzten gewaltigen Satze hatte der künftige Graf Dorincourt den Laternenpfahl umfaßt, den sein keuchender Gegner erst ein paar Sekunden später erreichte.
"Dreimal hoch, Ceddie Errol!" brüllte die kleine Schar. "Hurra, Ceddie Errol."
Mr. Havisham lehnte sich mit befriedigtem Lächeln in sein Wagenkissen zurück
"Bravo, Lord Fauntleroy," sagte er.
Als das Coupé vor Mrs. Errols Hause hielt, kamen Sieger und Besiegter inmitten des Kinderhaufens einträchtiglich des Weges daher, und Cedrik redete eifrig auf Billy Williams ein. Sein siegesbewußtes kleines Gesicht war dunkelrot, die blonden Locken klebten an der feuchten Stirn, die Händchen steckten tief in den Taschen.
"Siehst du," sagte er eben, "ich glaube, daß ich gewonnen habe, weil meine Beine ein bißchen länger sind als die deinigen. Ich glaube ganz sicher, daß es daher kommt, und dann, weißt du, bin ich auch drei Tage älter als du, und das ist auch ein Vorteil. Drei Tage bin ich älter."
Diese Darstellung der Sachlage schien auf Billy Williams so erheiternd zu wirken, daß ihm die Welt wieder erträglich vorkam und er sogar wieder ein wenig zu schwindeln anfing, gerade als ob er die Wette gewonnen und nicht verloren hätte. Ceddie Errol bewährte auch hier wieder sein Talent, andre vergnügt zu machen; sogar im ersten Feuer des Triumphes übersah er nicht, daß dem unterliegenden Teile wohl minder fröhlich ums Herz sein möchte, und daß es dem andern ein Trost sein könnte, in äußeren Umständen die Ursache seiner Niederlage zu sehen.
Mr. Havisham hatte an diesem Morgen noch eine lange Unterredung mit dem kleinen Sieger, in deren Verlauf er mehr als einmal lächelte und sein Kinn mit der mageren Hand rieb.
Mrs. Errol war abgerufen worden, und Cedrik und der Advokat blieben miteinander allein; anfangs zerbrach sich Mr. Havisham ein wenig den Kopf, was er mit seinem jugendlichen Gefährten anfangen solle; es schwebte ihm dunkel vor, daß es vielleicht am besten wäre, ihn auf die Begegnung mit seinem Großvater und die ihm bevorstehende große Veränderung ein wenig vorzubereiten. Daß Cedrik von dem Leben, das ihn in England erwartete, und von seinem künftigen Daheim keinerlei Begriff hatte, war klar, sogar daß seine Mutter nicht unter einem Dache mit ihm wohnen würde, wußte er nicht; Mrs. Errol hielt es für besser, ihm diese Schreckenskunde vorläufig zu ersparen.
Mr. Havisham saß in einem Lehnstuhle am offnen Fenster, dem gegenüber stand ein noch größerer, in welchem Cedrik saß und Mr. Havisham unverwandt anblickte. Er hatte sich ganz zurück gesetzt in dem für sein kleines Gestältchen ungeheuren Fauteuil, das lockige Köpfchen schmiegte sich in die Kissen, die Beine waren übereinander gelegt, die Hände steckten wieder tief in den Taschen und die ganze Haltung war entschieden frei nach Mr. Hobbs. Schon als seine Mama noch im Zimmer gewesen war, hatte er Mr. Havisham sehr genau beobachtet, und nachdem sie hinausgegangen war, fuhr er fort, ihn mit einer Art von Andacht anzublicken; ein Schweigen entstand, und der alte Herr und der kleine Junge schienen sich mit gegenseitigem Interesse zu studieren. Was er jedoch mit einem Jungen, der Rennen gewann, Pumphöschen trug und dessen rotbestrumpfte Beine nicht über den Stuhlsitz herunterreichten, sprechen sollte, darüber kam Mr. Havisham nicht so leicht mit sich ins reine, bis Cedrik ihm plötzlich aus der Verlegenheit half, indem er die Konversation eröffnete.
"Ich weiß gar nicht, was ein Graf ist," bemerkte er ernsthaft.
"Wirklich nicht?" erwiderte Mr. Havisham.
"Nein, und wenn man einmal einer werden muß, sollte man das doch wissen, meinen Sie nicht auch?"
"Allerdings – gewiß," gab Mr. Havisham zur Antwort.
"Würden Sie nicht so gut sein und mir das auseinandersetzen?" bat Ceddie sehr respektvoll, wobei er nur einige Silben verschluckte, was ihm bei den beliebten langen Wörtern des öftern vorkam. "Wer hat ihn denn zu einem Grafen gemacht?"
"In erster Linie ein König oder eine Königin," sagte Mr. Havisham. "Gewöhnlich erhält er den Titel zur Belohnung für irgend einen bedeutenden Dienst, den er seinem Landesherrn leistet, oder sonst eine große That."
"O!" sagte Cedrik. "Das ist also wie der Präsident."
"Meinst du?"
"Ja gewiß," versicherte Ceddie freudig. "Wenn jemand sehr gut ist und sehr viel weiß, dann wird er Präsident. Dann gibt es einen Fackelzug und Musik und viele Reden. Manchmal habe ich gedacht, ich möchte wohl Präsident werden; Graf zu werden, daran habe ich nie gedacht: ich wußte ja nichts davon," setzte er eilig hinzu, besorgt, Mr. Havisham könnte es ihm verargen.
"Die Sache ist doch ziemlich verschieden von einer Präsidentenwahl."
"Weshalb?" fragte Cedrik. "Gibt es keinen Fackelzug?"
Mr. Havisham schlug nun gleichfalls die Beine übereinander und legte mit außerordentlicher Sorgfalt die Fingerspitzen der beiden Hände aufeinander; er hielt die Zeit für gekommen, den Gegenstand etwas eingehender zu erörtern.
"Ein Graf ist – ist eine sehr einflußreiche Persönlichkeit," begann er.
"O, ein Präsident auch," fiel ihm Ceddie ins Wort. "Der Fackelzug, der ist immer fünf Meilen lang und Raketen steigen und Musik spielt."
"Ein englischer Graf," fuhr Mr. Havisham ziemlich unsicher fort, "gehört jedenfalls einem sehr alten Geschlechte an, denn –"
"Was heißt das?" forschte Ceddie.
"Er ist von alter, sehr alter Familie."
"Ach!" sagte Cedrik und seine kleinen Hände versanken noch tiefer in seine Taschen. "Da ist die Apfelfrau beim Park wahrscheinlich auch von sehr alter Familie. Ja, ganz gewiß ist sie von uraltem Geschlecht, denn die ist so alt, so alt, ach, Sie würden sich wundern, daß sie nur noch stehen kann, und doch sitzt sie immer draußen, sogar wenn es regnet. Sie thut mir so leid und den andern Jungen auch, einmal hat Billy Williams beinahe einen Dollar gehabt, und da habe ich ihm gesagt, er solle ihr jeden Tag um fünf Cents Aepfel abkaufen, bis sein Geld alle sei, das hätte für zwanzig Tage gereicht, aber schon nach acht Tagen kriegte er Aepfel über. Aber damals – das traf sich gut – schenkte mir ein Herr fünfzig Cents, und nun konnte ich an seiner Statt Aepfel kaufen. Es thut einem doch so leid, wenn jemand so arm ist und von so altem Geschlecht; das ihrige, sagt sie, ist ihr in die Knochen gefahren, und wenn Regenwetter ist, thun sie ihr sehr weh."
Mr. Havisham blickte in einiger Verlegenheit in das ernsthafte, unschuldige Gesicht seines kleinen Gegenüber.
"Ich fürchte, du hast mich nicht ganz verstanden," fuhr er fort. "Wenn ich von altem Geschlecht spreche, so meine ich damit nicht hohes Alter der Personen, sondern daß der Name einer solchen Familie lange bekannt ist. Vielleicht Hunderte von Jahren sind Männer, die diesen Namen trugen, in der Geschichte ihres Landes genannt und gefeiert worden."
"Wie George Washington," ergänzte Ceddie. "Von dem habe ich gehört, seit ich auf der Welt bin, und lange vorher wußte man schon von ihm, und Mr. Hobbs sagt, er wird gar nie vergessen werden."
"Der erste Graf Dorincourt," erklärte Mr. Havisham mit einer gewissen Feierlichkeit, "empfing den Titel eines Grafen vor vierhundert Jahren."
"Ach, das ist lange her! Himmel, was für eine lange Zeit. Haben Sie das Herzlieb auch erzählt? Das wird sie ›'tressieren‹. Wenn sie hereinkommt, müssen wir ihr das gleich sagen; sie hört so gern Kuriositäten. Aber was thut denn ein Graf noch außerdem, daß er den Titel bekommt?"
"Viele haben England regieren helfen, andre sind tapfre Krieger gewesen, die in großen Schlachten gefochten haben."
"Das möchte ich auch," rief Cedrik begeistert. "Mein Papa war ein Soldat und sehr tapfer – so tapfer wie George Washington. Vielleicht wäre er auch deshalb ein Graf geworden, wenn er nicht gestorben wäre. Ich bin so froh, daß Grafen tapfer sind. Früher, da habe ich mich manchmal gefürchtet, im Dunkeln, wissen Sie, aber da war ich auch noch sehr klein, und wenn ich dann an die Soldaten in der Rev'lution und an George Washington gedacht habe, da habe ich mich geschämt."
"Ein Graf zu sein, hat hier und da noch andre Vorzüge," sagte Mr. Havisham bedächtig und faßte den kleinen Lord mit einem eigentümlichen Ausdruck ins Auge. "Es gibt Grafen, die sehr viel Geld haben."
Er war gespannt, ob der kleine Mann da vor ihm schon einen Begriff von der Macht des Geldes habe.
"Viel Geld haben ist sehr nett," sagte Ceddie harmlos. "Ich wollte, ich hätte viel Geld."
"Wirklich? Und wozu denn?"
"Ach, wenn man Geld hat, kann man eine Menge Dinge thun. Da ist gleich die Apfelfrau, zum Beispiel; wenn ich reich wäre, würde ich ihr ein Zelt kaufen über ihrem Stand und einen kleinen Ofen, und wenn's regnet, würde ich ihr einen Dollar geben, dann könnte sie zu Hause bleiben. Und dann – oh, einen Shawl würde ich ihr auch geben, und dann thäten ihr die Knochen lange nicht mehr so weh. Sie hat ja nicht Knochen wie wir, ihr thun alle weh, wenn sie sich nur rührt, das ist sehr schlimm, wissen Sie. Wenn ich aber so reich wäre, daß ich ihr all das kaufen könnte, dann, glaube ich, würden ihre Knochen ganz gesund!"
"Aha!" bemerkte Mr. Havisham. "Und was würdest du denn sonst noch thun, wenn du reich wärest?"
"O noch so vieles, vieles! Natürlich würde ich Herzlieb schöne Sachen kaufen, Nadelbücher und Fächer und goldne Fingerhüte und Ringe und Konv'ationslexikon und eine Kutsche, damit sie nicht im Om'ibus fahren muß. Wenn sie ein rosa Seidenkleid haben möchte, würd ich ihr auch eins kaufen, aber sie will immer nur schwarze Kleider haben, aber ich würde sie doch in alle die großen schönen Läden führen und sie müßte sich etwas auswählen. Und dann Dick."
"Wer ist denn Dick?" fragte Mr. Havisham.
"Dick ist Schuhputzer," erläuterte Seine kleine Herrlichkeit, sich mehr und mehr für seine eignen Plane erwärmend. "Er ist ein so netter Schuhputzer, Sie können sich gar nicht denken, wie nett! Er steht an einer Straßenecke drunten, wo's in die Stadt geht, und ich kenne ihn schon lange, lange. Einmal, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, bin ich mit Herzlieb ausgegangen, und sie hat mir einen wunderschönen Ball gekauft, der sehr hoch sprang, und plötzlich sprang er mitten hinein in die Straße unter Wagen und Pferde und ich war so erschrocken, daß ich zu weinen anfing – ich war damals noch sehr klein," setzte er entschuldigend hinzu – "und Dick putzte eben einem Herrn die Schuhe und da rief er ›hallo‹! und rannte mitten hinein unter die Pferde und holte meinen Ball und wischte ihn an seinem Rock ab und gab ihn mir und sagte: ›Sei nur ruhig, Kleiner.‹ Herzlieb fand das sehr schön von ihm und ich auch, und seitdem sprechen wir immer mit ihm, wenn wir in die Stadt gehen. Er sagt ›hallo!‹ und ich sage ›hallo!‹ und dann plaudern wir eine Weile und er erzählt uns, wie sein Geschäft geht, schlecht genug ist's gegangen in letzter Zeit."
"Und was möchtest du denn für diesen Dick thun?" forschte der Advokat und rieb sein Kinn mit einem sonderbaren Lächeln.
"O," sagte Lord Fauntleroy, sich mit einer sehr wichtigen Geschäftsmiene in seinem Stuhle zurechtrückend, "ich würde Jack ausbezahlen."
"Und wer ist denn Jack?" fragte Mr. Havisham.
"Er ist Dicks Kompagnon, und einen schlimmeren kann man nicht auf dem Halse haben, sagt Dick. Der Bursche verdirbt das Geschäft, denn er bemogelt, und dann, sagt Dick, komme er außer Rand und Band. Sie würden gewiß auch wütend werden, wenn Sie den ganzen Tag Schuhe putzen würden, so fleißig und so gut als möglich und immer ehrlich dabei wären und Ihr Partner würde bemogeln – pfui! Alle Leute mögen Dick leiden, aber kein Mensch mag Jack leiden, und deshalb bleiben manche Kunden weg. Wenn ich reich wäre, würde ich Jack ausbezahlen und Dick ein Meisterzeichen kaufen. Er sagt, mit einem Meisterzeichen kann man's weit bringen, und dann würde ich ihm auch neue Kleider kaufen und neue Bürsten und würde ihm unter die Arme greifen. Er sagt, wenn man einem Menschen nur anfangs unter die Arme greift, dann geht alles wie geschmiert."
Seine kleine Herrlichkeit trug diese Geschichte mit einer rührenden Unbefangenheit und Zutraulichkeit vor, wiederholte die Redensarten seines Freundes mit harmlosem Selbstgefühl und setzte unbedingt bei seinem Zuhörer den wärmsten Anteil an den Verhältnissen des jungen Schuhputzers voraus. Und in der That wuchs Mr. Havishams Interesse bei jedem Worte, was freilich vielleicht weniger Dick oder der alten Apfelfrau als dem warmherzigen kleinen Lord galt, in dessen Köpfchen unter dem goldnen Lockenbusch so viel Pläne fürs Wohl seiner Freunde steckten, der dabei nur einen zu vergessen schien, und zwar sich selbst.
"Und was würdest du denn dir kaufen, wenn du reich wärest?"
"Ach, eine ganze Masse Sachen!" versetzte Ceddie frischweg. "Aber erst würde ich der Mary Geld geben für ihre Bridget, das ist ihre Schwester, die zwölf Kinder hat und einen Mann, der nichts verdient. Sie kommt oft zu uns und weint, und Herzlieb gibt ihr dann viele Sachen in ihren Korb und dann weint sie wieder und sagt: ›Gott vergelt's Madame; ach, so eine gute Dame.‹ Mr. Hobbs, glaube ich, der würde sich sehr freuen, wenn ich ihm zum Andenken an mich eine goldne Uhr geben könnte und eine Kette daran und eine Meerschaumpfeife. Und dann möchte ich eine Compagnie haben."
"Eine Compagnie?" rief Mr. Havisham.
"Jawohl, eine ganz richtige Compagnie," erklärte Ceddie, der ganz aufgeregt wurde, "Fackeln und Uniformen und Gewehre und so Sachen möchte ich haben für all die Jungens und auch für mich – dann würden wir marschieren und ex'zieren! Das macht' ich für mich, wenn ich reich wäre!"
Die Thür ging auf und Mrs. Errol kam wieder herein.
"Ich bedaure, so lange aufgehalten worden zu sein," entschuldigte sie sich gegen Mr. Havisham, "eine arme Frau, die in großer Not ist, wollte mich sprechen."
"Mein junger Freund hier hat mir indessen viel erzählt von seinen Bekannten und von dem, was er für sie thun möchte, wenn er reich wäre."
"Bridget gehört auch in seinen Freundeskreis," versetzte Mrs. Errol, "sie ist eben bei mir gewesen, in der Küche. Die armen Leute sind übel daran; ihr Mann hat ein rheumatisches Fieber."
Cedrik kletterte aus seinem Lehnstuhle hervor.
"Ich glaube, ich muß auch nach ihr sehen," sagte er, "und nach ihrem Manne fragen. Er ist sehr nett, der Mann, wenn er gesund ist, und hat mir einmal ein hölzernes Schwert gemacht; er ist sehr talentvoll."
Damit lief er zum Zimmer hinaus und Mr. Havisham erhob sich. Er schien geneigt, eine Mitteilung zu machen, zögerte aber noch einen Augenblick, ehe er sich an Mrs. Errol wandte.
"Vor meiner Abreise von Schloß Dorincourt hatte ich eine Unterredung mit Mylord, in deren Verlauf er mir verschiedene Verhaltungsmaßregeln gab. Sein Wunsch ist, daß sein Enkel dem künftigen Leben in England und auch der Begegnung mit ihm selbst mit Vergnügen und freudigen Erwartungen entgegensehen solle. Er hat mir ausdrücklich gesagt, daß ich Seine Herrlichkeit von der Umwandlung seiner Verhältnisse in Kenntnis setzen solle und ihm mitteilen, daß ihm Geld und jegliches Vergnügen, das seinem Alter angemessen, zur Verfügung stehe; er hat mir außerdem den Auftrag erteilt, jeden Wunsch des Knaben zu erfüllen und ihm dabei zu sagen, daß es sein Großvater sei, der ihm diese Freuden bereite. Nun bin ich mir allerdings wohl bewußt, daß der Graf hierbei ganz andre Dinge im Sinne hatte; wenn jedoch Lord Fauntleroy Freude daran findet, der armen Frau zu helfen, so würde es nicht in der Absicht meines Auftraggebers liegen, ihm dies Vergnügen zu versagen."
Es war das zweite Mal, daß Mr. Havisham die Wünsche des Grafen in einer Umschreibung wiedergab. Seine Herrlichkeit hatte gesagt: "Der Junge soll wissen, daß ich ihm geben kann, was sein Herz begehrt; er soll merken, was es heißt, der Enkel des Grafen Dorincourt sein. Kaufen Sie ihm, was ihm einfällt, stecken Sie ihm die Taschen voll Geld und sagen Sie ihm, daß es von seinem Großvater komme."
Die Motive dieser Großmut waren nichts weniger als rein, und wenn es sich um ein minder liebevolles, warmherziges Kind gehandelt hätte, würde das Experiment vielleicht schlimm ausgefallen sein. Cedriks Mutter ahnte keinerlei Gefahr; sie dachte einfach, daß ein einsamer, unglücklicher alter Mann, der seinen Kindern hatte ins Grab blicken müssen, ihrem Jungen Liebe erweisen und seine Neigungen gewinnen wollte. Dabei freute sie sich, daß Cedrik der armen Frau sollte helfen können, und es ward ihr leichter ums Herz bei dem Gedanken, daß die erste Wirkung dieser seltsamen Wandlung ihres Geschickes die sein sollte, daß ihr Kind andern helfen und beistehen konnte, und ein warmes Rot stieg in ihr hübsches, schmales Gesicht.
"O," sagte sie, "das war sehr gütig von dem Grafen, und wie wird Cedrik sich freuen! Er hing immer sehr an dieser Bridget und ihrem Manne; die Leute sind einer Unterstützung würdig, und es hat mir oft weh gethan, daß ich nicht mehr geben konnte. Der Mann ist ein tüchtiger Arbeiter, aber nun war er lange krank und hat kostspielige Arzneien und allerhand Stärkung nötig gehabt."
Mr. Havisham zog seine Brieftasche hervor und öffnete sie langsam mit einem eigentümlichen Lächeln. Er überlegte sich im stillen, was der Graf wohl über diesen ersten, seinem Enkel gewährten Wunsch denken werde, und war nicht sehr im klaren, wie der mürrische, egoistische Herr diese Deutung seines Auftrages auffassen werde.
"Ich weiß nicht, gnädige Frau," fuhr er fort, "ob Ihnen genau bekannt ist, daß der Graf Dorincourt ein ungemein reicher Mann ist und vollkommen in der Lage, jede Laune zu befriedigen. Er wäre ohne Zweifel ganz damit einverstanden, daß Lord Fauntleroys Einfälle ausgeführt werden. Darf ich Sie bitten, ihn hereinzurufen, ich werde ihm fünf Pfund für die Leute geben."
"Fünfundzwanzig Dollar!" rief Mrs. Errol. "Das ist ja ein Vermögen für die Frau, das kann ich kaum glauben!"
"Glauben Sie es immerhin und gewöhnen Sie sich an den Gedanken, daß im Leben Ihres Knaben ein Wendepunkt eingetreten ist, und daß von jetzt ab viel Macht in seine Hände gegeben sein wird."
"Ach, und er ist noch so jung – noch solch ein ganzes Kind! Wie soll ich ihn lehren, sie segensreich zu gebrauchen? Ich erschrecke fast davor – mein kleiner, guter Herzensjunge."
Der Advokat hatte abermals das Bedürfnis, sich zu räuspern, es war merkwürdig, wie der ängstliche, schüchterne Blick dieser braunen Augen sein verknöchertes Herz rührte.
"Wenn ich aus der Unterredung, die ich heute früh mit Lord Fauntleroy gehabt, schließen darf, gnädige Frau, so möchte ich vorhersagen, daß der künftige Herr von Dorincourt mindestens ebensoviel an andre als an seine Person denken wird. Er ist freilich nur ein Kind, aber meiner Ansicht nach, in dem Punkte zuverlässig."
Die Mutter ging, Cedrik zu holen, und brachte ihn ins Wohnzimmer. Vor der Thüre hörte Mr. Havisham ihn laut reden.
"Entzündlichen Rheu'tismus hat er," sagte er, "und das ist eine besonders schreckliche Art von Rheu'tismus, Und er denkt immer an die Hausmiete, die nicht bezahlt ist, und Bridget sagt, das mache die Entzündlichkeit viel schlimmer. Pat könnte eine Stelle kriegen in einem Laden, aber er hat keine anständigen Kleider."
Das kleine Gesicht war noch ganz bekümmert, als er hereinkam; offenbar thaten ihm seine Schützlinge sehr leid.
"Herzlieb sagt, Sie wollen etwas von mir," wandte er sich an Mr. Havisham. "Ich habe nur mit Bridget gesprochen."
Mr. Havisham sah ihn freundlich an, fühlte sich aber einigermaßen verlegen und ungeschickt; wie die Mutter gesagt hatte, war er doch noch ein sehr kleiner Junge.
"Der Graf Dorincourt," begann er und warf dann unwillkürlich einen hilfesuchenden Blick auf Mrs. Errol.
Plötzlich kniete die Mutter an der Seite des kleinen Lord und schlang zärtlich die Arme um seine schlanke kleine Gestalt.
"Herzenskind, der Graf, siehst du, ist dein Großvater – deines Papas Vater, und er ist sehr, sehr gütig und hat dich lieb und möchte, daß du ihn auch lieb hättest, jetzt, wo alle drei Söhne tot sind, die einst seine kleinen Jungen waren. Er möchte dich glücklich wissen und möchte, daß du andre glücklich machst, und er ist sehr reich und will, daß du alles haben sollst, was du dir wünschest. Das hat er Mr. Havisham gesagt und hat ihm viel, viel Geld für dich gegeben. Wenn du nun willst, so darfst du Bridget so viel geben, daß sie ihre Miete bezahlen und ihrem Manne alles kaufen kann, was er braucht – ist das nicht herrlich, Ceddie? Ist der Großpapa nicht gut?" Und sie küßte das Kind auf seine runden Wangen, deren Farbe vor lauter Freude und Aufregung immerfort wechselte.
"Kann ich das Geld jetzt gleich haben?" rief er. "Darf ich's ihr jetzt geben? Sie will eben gehen."
Mr. Havisham händigte ihm die Summe ein, und er stürmte aus dem Zimmer.
"Bridget," hörte man ihn jubelnd rufen. "Bridget, so warte doch. Hier ist Geld, das gehört dir, jetzt kannst du deine Miete zahlen. Mein Großpapa hat es mir gegeben für dich und Michael!"
"O Master Ceddie," stotterte Bridget ganz überwältigt. "Das sind ja fünfundzwanzig Dollar. Wo ist die Mrs. Errol?"
"Ich werde wohl selbst gehen müssen und ihr die Sache klar machen," sagte Mrs. Errol.
Mr. Havisham blieb allein, und seine Gedanken flogen zurück zu dem heftigen, egoistischen Greise, der sein lebenlang nicht Zeit gefunden hatte, an etwas andres zu denken als an sich und sein Vergnügen, und der nun als alter Mann keine Menschenseele um sich hatte, die ihm zugethan war. Und daneben stellte sich ihm in scharfem Gegensatze das Bild des hübschen, frischen Jungen dar, wie er in seinem Stuhle gesessen und von Dick und seinen andern Freunden erzählt hatte, und er bedachte, welch unermeßliche Reichtümer, welch herrliche Besitzungen, welche bedeutende Macht zum Bösen oder Guten eines Tages in den kleinen runden Händchen liegen werde, die der kleine Lord so tief in seine Taschen zu versenken liebte.
"Es wird vieles anders werden," sagte er sich, "ganz anders werden die Dinge sich gestalten."
Bald darauf trat Cedrik mit seiner Mutter wieder ein, der Junge in großer Erregung. Er setzte sich auf seinen eignen kleinen Stuhl zwischen die Mutter und den Advokaten und nahm eine seiner wunderlichen Stellungen an, die Hände um die Kniee gefaltet.
"Geweint hat sie," sagte er ganz strahlend. "Vor Freude geweint – das hab' ich noch nie gesehen! Mein Großpapa muß sehr gut sein, hab's gar nicht gewußt, daß er so gut ist. Es ist doch angenehmer, als ich mir's dachte, ein Graf zu sein. Beinahe bin ich froh – beinahe bin ich sehr froh, daß ich einer werden soll."
Drittes Kapitel
Abschied von der Heimat
Während der folgenden Woche erfuhr Cedriks günstige Meinung über Grafen im allgemeinen und besondern noch eine wesentliche Steigerung. Es wurde ihm anfangs schwer, zu begreifen, daß es kaum mehr etwas gab, was er nicht erlangen konnte, und völlig wurde er sich über diese Thatsache überhaupt nicht klar. Das aber hatte er nach einigen Gesprächen mit Mr. Havisham erkannt, daß die Wünsche, die er auf dem Herzen hatte, in Erfüllung gehen sollten, und er machte sich dies mit einem Entzücken und einer Selbstlosigkeit zu nutze, die den würdigen Herrn sehr ergötzten. In der Woche, ehe sie sich nach England einschifften, geschahen merkwürdige Dinge, und dem Advokaten blieb es unvergeßlich, wie sie morgens einen gemeinsamen Besuch bei Dick machten, und wie sie nachmittags die Apfelfrau "aus altem Geschlecht" in großes Erstaunen versetzten durch die Mitteilung, daß ein Zelt und ein Ofen und ein Shawl ihr zu teil werden solle, und überdies noch eine Summe Geldes, die ihr ganz abenteuerlich vorkam.
"Denn ich muß nach England gehen und ein Lord werden," erklärte Ceddie mit herzgewinnender Freundlichkeit. "Und ich möchte nicht, so oft es regnet, an Ihre armen Knochen denken müssen. Meine Knochen schmerzen mich nie, deshalb kann ich mir nicht recht vorstellen, wie das ist, aber Sie haben mir immer sehr leid gethan und ich hoffe, daß jetzt alles besser wird."
"Sie ist eine sehr gute Frau," sagte er zu Mr. Havisham im Weggehen. "Einmal bin ich hingefallen und hatte ein Loch im Knie, da hat sie mir einen Apfel geschenkt, das hab' ich ihr nie vergessen. Sie wissen ja, das vergißt man nie, wenn jemand uns etwas Gutes gethan hat."
Die Besprechung mit Dick war sehr aufregend. Dick hatte eben großen Verdruß mit Jack gehabt und war in sehr gedrückter Stimmung, als sie ihn begrüßten. Seine Verblüffung, als Cedrik ihm ganz ruhig mitteilte, daß er aller Not ein Ende machen wolle, war derart, daß er ganz sprachlos war. Lord Fauntleroys Art und Weise, den Zweck seines Besuches darzulegen, war von größter Einfachheit und Formlosigkeit, und auf den daneben stehenden Mr. Havisham machte die Geradheit, mit der er auf sein Ziel lossteuerte, großen Eindruck. Die Mitteilung, daß sein alter Freund ein Lord geworden und in Gefahr stehe, ein Graf zu werden, wenn er am Leben bleibe, veranlaßte Dick, Mund und Nase aufzusperren und so erstaunt ins Blaue zu starren, daß ihm die Mütze vom Kopfe fiel. Nachdem er dieselbe aufgehoben, stieß er eine Bemerkung aus, die Mr. Havisham etwas befremdete, Seiner Herrlichkeit aber nichts Neues zu sein schien.
"Was gibst du mir, wenn ich das Zeug glaube?"
Verletzt fühlte sich der kleine Lord keineswegs von dieser Bemerkung, wohl aber versetzte ihn dieselbe in einige Verlegenheit, aus der er sich aber tapfer herausarbeitete.
"Es denkt jeder, es sei nicht wahr," sagte er. "Mr. Hobbs meinte, ich hatte einen Sonnenstich. Anfangs war es mir selbst auch gar nicht angenehm, aber nun habe ich mich schon daran gewöhnt. Der, welcher jetzt Graf ist, der ist mein Großpapa und der will, daß ich alles thun soll, was mir Freude macht. Er ist sehr gütig, wenn er auch ein Graf ist, und er hat mir durch Mr. Havisham eine Menge Geld geschickt, und davon sollst du welches haben, um Jack auszubezahlen."
Das Ende vom Liede war, daß Dick dies wirklich that, und daß er mit neuen Bürsten, einem sehr in die Augen fallenden Schilde und einer prächtigen Ausrüstung Alleinherrscher in seinem Geschäfte wurde. Er konnte erst ebensowenig an sein Glück glauben wie die Apfelfrau "aus altem Geschlechte"; er starrte seinen Wohlthäter ratlos an und erwartete jeden Augenblick, daß der Traum ein Ende haben werde. Erst als Cedrik ihm die Hand zum Abschied reichte, ward er sich der Thatsächlichkeit des ganzen Vorganges bewußt.
"Und nun leb wohl," sagte Ceddie mit einem ernstlichen Versuche, ihn das Zittern seiner Stimme nicht merken zu lassen, und mit einem etwas krampfhaften Zwinkern der großen braunen Augen. "Ich hoffe, daß dein Geschäft jetzt gut geht. Mir thut's leid, daß ich fort muß, vielleicht komme ich wieder, wenn ich ein Graf bin, und hoffentlich schreibst du mir auch, denn wir sind ja immer gute Freunde gewesen. Hier hab' ich dir's aufgeschrieben, wie du die Adresse an mich machen mußt, ich heiße nicht mehr Cedrik Errol, sondern Lord Fauntleroy und – jetzt lebe wohl, Dick!"
Dick zwinkerte auch angestrengt mit den Augen, und doch waren seine Wimpern verräterisch feucht. Er war kein sehr gebildeter Schuhputzer, und es wäre ihm schwer geworden, seine Empfindungen in Worte zu fassen, deshalb machte er auch gar keinen Versuch dazu, sondern begnügte sich, zu blinzeln und etwas zu verschlucken, was ihm immer wieder im Halse aufstieg.
"Wollte, du bliebest hier," sagte er mit heiserer Stimme. Dann lüftete er seine Mütze und wandte sich an Mr. Havisham: "Danke auch, Sir, daß Sie ihn hergebracht, und für alles. Er – er ist ein kurioser kleiner Kerl," setzte er hinzu, "ich hab' immer große Stücke auf ihn gehalten. Und Grütz' im Kopfe hat er und ist so ein ganz aparter Jung'."
Und nachdem die beiden von ihm weggegangen, stand Dick noch lange da und sah ihnen nach, und solange er die kleine biegsame Gestalt so elastisch neben ihrem großen, ernsten Begleiter dahinwandeln sah, wollte der Nebel vor seinen Augen nicht weichen.
Bis zum Tage der Abreise brachte Seine Herrlichkeit so viel Zeit als möglich in Mr. Hobbs' Laden zu. Mr. Hobbs selbst war in sehr gedrückter Stimmung, aus der er sich kaum mehr aufzuraffen wußte, und als sein kleiner Freund ihm triumphierend sein Abschiedsgeschenk, eine goldne Uhr mit Kette überreichte, war er kaum im stande, die Gabe gehörig zu würdigen. Er legte das Etui auf sein Knie und schneuzte sich mehrmals mit großem Geräusche.
"Es steht was drin," sagte Cedrik, "innen drin. Ich hab's dem Manne selbst gesagt, was er hineinschreiben müsse: ›Mr. Hobbs von seinem ältesten Freunde, Lord Fauntleroy. Die Uhr, sie spricht: Vergiß–mich–nicht!‹ Ich will nicht, daß Sie mich vergessen."
Mr. Hobbs machte abermals energischen Gebrauch von seinem Taschentuche.
"Ich werde dich auch nicht vergessen," sagte er und seine Stimme klang ebenso merkwürdig heiser wie die von Dick, "vergiß nur du mich nicht, wenn du unter die englischen Aristokraten kommst."
"Sie werde ich nicht vergessen, unter was für Menschen ich auch komme," versicherte der kleine Lord. "Bei Ihnen bin ich immer am glücklichsten gewesen, fast am glücklichsten, und ich hoffe, Sie besuchen mich einmal. Mein Großpapa würde sich ganz gewiß furchtbar freuen; vielleicht schreibt er Ihnen selbst und ladet Sie ein, wenn ich ihm alles erzähle. Und – und nicht wahr, Sie würden dann nicht daran denken, daß er ein Graf ist? Ich meine, Sie würden deshalb doch kommen, wenn er Ihnen schreibt?"
"Ich würde dir zuliebe kommen," erklärte Mr. Hobbs huldvoll, und damit war zugestanden, daß er im Falle einer dringenden Einladung von seiten des Grafen seine republikanischen Vorurteile überwinden, sein Bündel schnüren und ein paar Monate auf Schloß Dorincourt zubringen würde.
Endlich waren alle Vorbereitungen abgethan. Der Tag erschien, an dem die Koffer an Bord geschafft wurden, und die Stunde, da der Wagen vor der Hausthür hielt. Ein seltsames Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit überkam dann den kleinen Jungen. Die Mutter hatte sich ein paar Stunden in ihrem Zimmer eingeschlossen gehabt, und als sie nachher die Treppe herabkam, waren ihre Augen naß und ihr lieblicher Mund bebte seltsam. Cedrik eilte ihr entgegen, sie beugte sich zu ihm nieder, und er schlang seine Aermchen um ihren Hals und küßte sie. Was es war, wußte er nicht recht, aber er fühlte, daß sie beide traurig waren, und unwillkürlich kam's ihm auf die Lippen: "Gelt, Herzlieb, wir haben unser kleines Haus lieb gehabt? Und wir werden's immer lieb behalten?"
"Ja, ja," versetzte sie mit leiser Stimme. "Ja, mein Herzenskind."
Und dann stiegen sie in den Wagen und Ceddie setzte sich ganz nahe zu seiner Mama, sah sie unverwandt an, hielt ihre Hand fest und streichelte sie ganz leise, indes sie nach dem verödeten Hause zurückblickte.
Unglaublich kurze Zeit darauf befanden sie sich auf dem Dampfer, mitten im wildesten Lärm und Getriebe. Wagen fuhren an und setzten Passagiere ab, Reisende gerieten in Verzweiflung über ihr Gepäck, das noch nicht da war und möglicherweise zu spät kam, Reisekoffer und Kisten wurden hin und her gezerrt und geschleppt, Matrosen rollten Taue auf und eilten ab und zu, Befehle wurden erteilt, Damen und Herren, Kinder und Kinderfrauen kamen an Bord, die einen lachend und fröhlich, die andern still und gedrückt, einzelne mit Thränen in den Augen. Ueberall entdeckte Cedrik etwas Interessantes; die Berge von Tauen, die aufgerollten Segel, die in den blauen Himmel hineinragenden Masten, alles fesselte seine Aufmerksamkeit, und er nahm sich fest vor, mit den Matrosen Freundschaft zu schließen und womöglich Näheres über Seeräuber zu erfahren.
Gerade im allerletzten Augenblicke – Cedrik stand am Geländer des oberen Deckes, beobachtete die Zeichen zur Abfahrt und erfreute sich an den Zurufen der Matrosen und der Leute auf dem Damme – bemerkte er in einer wenige Schritte von ihm entfernten Gruppe einen kleinen Kampf. Jemand drängte sich mit Gewalt durch und zwar in seiner Richtung, es war ein Junge, der etwas Rotes in der Hand hielt – Dick! Ganz atemlos gelangte er endlich in Cedriks Nähe.
"Bin ich gelaufen," keuchte er, "wollte dich doch abfahren sehen. Geschäft ist prima. Von dem, was ich gestern gemacht, hab' ich das für dich gekauft, kannst's brauchen, wenn du unter die feinen Leute kommst. Das Papier habe ich verloren im Gedränge, die Kerls wollten mich nicht 'rauf lassen, 's ist ein Taschentuch."
In einem Atemzuge stieß er den Satz heraus, und ehe Cedrik Zeit hatte, etwas zu erwidern, erklang das letzte Zeichen, und mit einem gewaltigen Satze flog Dick davon.
"Leb wohl!" rief er noch. "Trag's, wenn du zu den Vornehmen kommst!" und damit war er verschwunden.
Ein paar Sekunden darauf sah man ihn sich auf dem unteren Decke durch die Leute drängen und in dem Augenblicke, ehe die Planke weggezogen ward, sprang er ans Ufer und schwenkte seine Mütze.
Cedrik hielt sein hochrotes, seidenes Tuch, das mit ungeheuern dunkelblauen Hufeisen und Pferdeköpfen geschmückt war, in der Hand. Allgemeines Durcheinanderrennen und großer Tumult entstand. Vom Dampfer hinüber und herüber von den am Ufer Stehenden klangen die Rufe: "Leb wohl, altes Haus! Leb wohl! Leb wohl! Vergiß uns nicht. Nicht wahr, du schreibst von Liverpool? Gute Fahrt! Leb wohl!"
Der kleine Lord Fauntleroy beugte sich weit hinaus und ließ sein rotes Tuch flattern.
"Leb wohl, Dick!" rief er, so laut er konnte. "Ich danke dir! Leb wohl, Dick."
Und das mächtige Schiff setzte sich langsam in Bewegung, die Leute riefen Hurra, Cedriks Mutter zog den Schleier vors Gesicht, auf dem Damme herrschte große Bewegung, Dick aber sah von alledem nichts, als das liebliche Kindergesicht mit seinem blonden Heiligenschein, auf den die Sonne fiel, und hörte nichts, als die herzliebe, frische Stimme, die immer wieder: "Leb wohl, Dick!" rief. So segelte der kleine Lord Fauntleroy von seinem Heimatlande weg in die ihm fremde Welt seiner Ahnen.
Viertes Kapitel
In England
Unterwegs teilte die Mutter ihrem Lieblinge mit, daß sie in Zukunft nicht mehr zusammenleben würden. Es kostete Mühe, bis er sich von einer solchen Möglichkeit überzeugen ließ, und sein Jammer darüber war so grenzenlos, daß Mr. Havisham im stillen nur den glücklichen Gedanken des Grafen, die Mutter in der Nähe wohnen zu lassen, pries, denn ohne diesen Trost hätte das Kind die Trennung schwerlich ertragen. Die Mutter that alles, um ihm die Vorstellung freundlicher zu machen, und tröstete ihn so herzlich und erzählte ihm immer wieder, wie nah sie ihm sein werde, daß ihm der Gedanke allmählich weniger schrecklich erschien.
"Mein Haus ist gar nicht weit vom Schlosse, Ceddie," sagte sie, so oft die Rede darauf kam, "ganz nahe sogar, und du kannst immer herüberlaufen und nach mir sehen. Und denke dir nur, wieviel du mir dann zu erzählen haben wirst, und wie glücklich wir miteinander sein werden. Ach, es muß ja so schön dort sein! Wie oft hat mir dein Papa alles beschrieben. Ihm war das Schloß ganz ans Herz gewachsen, und du wirst es auch bald lieb gewinnen."
"Wenn du auch dort wärst, dann wohl," versetzte der betrübte kleine Lord mit einem tiefen Seufzer.
Es war ja ganz natürlich, daß ihm eine Einrichtung, die ihn von "Herzlieb" trennte, als etwas sehr Widersinniges und Unbegreifliches erschien. Mrs. Errol hielt es zudem für richtig, ihn über die Gründe dieser Trennung nicht aufzuklären.
"Verstehen könnte er es doch nicht," sagte sie zu Mr. Havisham, "es würde ihn also nur alterieren und beängstigen, und ich bin überzeugt, daß er sich weit eher an seinen Großvater anschließt, wenn er nicht weiß, daß dieser einen Widerwillen gegen mich hat. Haß und Bitterkeit sind ihm ganz fremd, und ich glaube, der Gedanke, daß jemand mich haßt, würde ihn unglücklich machen! Sein Herz ist voll Liebe! Es ist viel besser, wenn er das alles erst später erfährt – viel besser im Interesse des Grafen namentlich, denn dies Bewußtsein würde eine Scheidewand zwischen ihm und dem Großvater bilden, wenn Ceddie auch noch ein Kind ist."
Cedrik erfuhr also nur, daß diese Trennung aus Gründen, die er noch nicht verstehen könne, beschlossen sei, und daß er später einmal alles erfahren und begreifen werde. Das machte ihn wohl nachdenklich, allein schließlich war es ihm ja weniger um die Gründe, als um die Sache zu thun, und nachdem ihm sein Mütterchen wieder und wieder die Zukunft im rosigsten Lichte ausgemalt hatte, fingen seine Bedenken an schwächer zu werden, obgleich Mr. Havisham ihn noch mehr als einmal in einer seiner wunderlich altväterischen Stellungen dasitzen und aufs Meer hinausstarren sah, wobei sich mancher Seufzer aus seiner Brust stahl, der viel zu ernsthaft klang für ein Kind.
"Es gefällt mir gar nicht," sagte er in einem seiner ehrbaren Gespräche mit dem Advokaten. "Sie glauben nicht, wie wenig mir die Sache gefällt, aber es gibt ja viel Kummer auf der Welt, den man eben ertragen muß. Das sagt Mary immer, und auch Mr. Hobbs hab' ich das sagen hören. Und Herzlieb will, daß ich gern zum Großpapa gehen soll, weil all' seine Kinder tot sind und das sehr traurig ist. Natürlich thut einem ein Mann leid, der all' seine Kinder verloren hat – und eins war so plötzlich tot."
Wer Seine kleine Herrlichkeit kennen lernte, fand die altkluge Weisheitsmiene, die er gelegentlich in der Unterhaltung aufsetzte, bezaubernd: wenn man dabei in sein unschuldiges rundes Gesichtchen sah, hatten die weisen Bemerkungen einen unwiderstehlichen Reiz, und wenn der hübsche, blühende, goldlockige kleine Mann sich hinsetzte, die Hände ums Knie schlang und sich mit großer Würde unterhielt, war er das Entzücken seiner Umgebung und namentlich fand Mr. Havisham jeden Tag mehr Freude an ihm.
Als der minder glückliche Teil der Passagiere, der, welcher der Seekrankheit seinen Tribut zu bezahlen gehabt hatte, wieder auf Deck sichtbar ward und sich auf den bequemen Stühlen niederließ, schien auch kein einziger darunter zu sein, der die merkwürdige Geschichte des kleinen Lord Fauntleroy nicht kannte, und jedermann interessierte sich für den Jungen, der sich überall herumtrieb, wenn er nicht gerade mit seiner Mutter und dem steifen alten Engländer auf und ab ging oder mit den Matrosen plauderte. Mit allen schloß er Freundschaft, wozu er ja stets bereit war. Hatte er sich einer Gruppe von Herren angeschlossen, so marschierte er mit großen, festen Schritten neben ihnen her und ging bereitwillig auf jeden Scherz ein; war er im Kreise der Damen, so war des fröhlichen Lachens kein Ende, und spielte er mit den Kindern, so war das Spiel immer ganz besonders lebendig und lustig.
Seine Hauptfreunde aber waren die Matrosen – er erfuhr die wunderbarsten Geschichten von Seeräubern, Schiffbruch und einsamen, menschenleeren Inseln, er lernte Taue splissen und kleine Schiffe auftakeln, und erwarb sich in Bezug auf Topsegel und Mainsegel eine erstaunliche Gelehrsamkeit. Seine Redeweise bekam einen entschiedenen Anflug von Teerjackentum, und er rief einmal unauslöschliches Gelächter hervor, als er sich an einem kühlen Morgen, wo Damen und Herren sich warm eingehüllt hatten, mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt und weicher Stimme äußerte: "Da fahr' mir doch gleich der Klabautermann in die Planken, heut ist's frisch."
Er war sehr überrascht, daß diese seemännische Bemerkung solche Heiterkeit hervorrief; er hatte sie von einem älteren Seehelden, Namens Jerry, vernommen, in dessen Erzählungen sie öfter wiederkehrte. Jerry mußte, nach seinen Beschreibungen zu schließen, mindestens zwei- oder dreitausend Fahrten gemacht haben, wobei er unfehlbar jedesmal Schiffbruch gelitten und an ein mit Menschenfressern bevölkertes Eiland verschlagen worden war; daß ihm bei solchen Gelegenheiten mehr als einmal passiert war, teilweise gebraten und vollständig aufgezehrt und etliche zwanzigmal skalpiert zu werden, verstand sich von selbst.
"Deshalb hat er gar keine Haare mehr," erklärte Lord Fauntleroy seiner Mama. "Wenn man ein paarmal skalpiert worden ist, wächst das Haar nie mehr. Jerry seins kam nicht wieder, nach dem letzten Mal, als ihn der König der Parromachaweekins mit einem Messer, das aus dem Schädel des Häuptlings der Wopslemumpkies gemacht war, skalpiert hatte. Er sagt, das sei fast das Schlimmste gewesen, was ihm je vorgekommen, und seine Haare seien ihm ganz zu Berge gestanden, wie der König das Messer wetzte, und hätten sich auch nachher nicht mehr gelegt, und der König trage nun den Skalp so, und er sehe aus wie eine Haarbürste. Nein, was für ›Verlebnisse‹ dieser Jerry gehabt hat! Ich wollt', ich könnte Mr. Hobbs alles erzählen!"
Zuweilen, wenn das Wetter schlecht war und man im Salon beisammen saß, gab Cedrik, der immer bereit war, das Seinige zur Unterhaltung beizutragen, Jerrys "Verlebnisse" preis, wobei er sehr aufmerksame Zuhörer fand.
"Jerrys Geschichten 'tressieren alle so," sagte er dann zu seinem Mütterchen. "Manchmal denke ich beinahe – du mußt nicht böse sein, Herzlieb – es könnte nicht alles dran wahr sein, aber doch hat Jerry es selbst erlebt, aber, weißt du, vielleicht weiß er's hier und da nicht mehr so genau, weil er so oft skalpiert worden ist. Skalpiert werden, davon kann man ein schlechtes Gedächtnis kriegen."
Elf Tage, nachdem er Dick sein Lebewohl zugerufen hatte, traf der kleine Lord in Liverpool ein, und am Abend des zwölften Tages fuhr der Wagen, der ihn, seine Mutter und Mr. Havisham an der Bahn abgeholt hatte, an Court Lodge vor.
Mary, die zu Mrs. Errols Bedienung mit herübergekommen war, hatte das Haus schon etwas früher erreicht, und als Cedrik aus dem Wagen sprang, sah er einige Dienstboten in der glänzend erleuchteten Halle stehen, Mary aber unter der Hausthür. Mit einem fröhlichen Ausrufe eilte er auf sie zu und küßte sie auf die knallroten Wangen.
"Bist du schon da, Mary? Herzlieb, Mary ist da!"
"Ich bin froh, daß Sie da sind, Mary," sagte Mrs. Errol halblaut zu ihr. "Ich fühle mich weit weniger fremd, nun ich ein bekanntes Gesicht um mich habe." Dabei reichte sie ihr die schmale Hand, die Mary kräftig schüttelte. Ach, sie verstand wohl, wie der jungen Frau zu Mute sein mußte, die ihre Heimat verlassen hatte und nun ihr Kind hergeben sollte.
Die englischen Dienstboten beobachteten Mutter und Sohn mit großer Neugierde. Alle möglichen Gerüchte waren natürlich über die beiden im Umlauf; jedermann wußte, weshalb Mrs. Errol hier wohnen mußte, und der kleine Lord im Schlosse, jedermann wußte genau, welch ungeheures Vermögen seiner harrte und was für ein jähzorniger Großvater mit Gichtanfällen und bösen Launen.
"Leicht kriegt er's nicht, der arme kleine Kerl!" Das hatten sie längst untereinander ausgemacht.
Was es aber für eine Art von Kind war, dieser Lord Fauntleroy, das wußten sie nicht, und das Wesen des künftigen Herrn von Dorincourt war für sie eben nicht leicht verständlich. Er zog sehr selbständig seinen kleinen Ueberrock aus, gerade, als ob er gewöhnt wäre, sich selbst zu bedienen, und dann sah er sich um in der weiten Halle, betrachtete die Bilder und die Hirschgeweihe und alle möglichen Dinge, die ihm sehr merkwürdig vorkamen, weil er noch nichts derartiges gesehen hatte.
"Herzlieb," rief er, "das ist ja ein goldiges Haus, nicht wahr? Ich bin so froh, daß du da wohnst! Und ein ganz großes Haus ist es!"
Freilich war es groß im Vergleiche mit dem engbrüstigen Gebäude in der ärmlichen New Yorker Straße, und hübsch und freundlich war es auch. Mary führte die Ankömmlinge hinauf in ein helles, ganz mit buntem Kattun tapeziertes und ausgestattetes Schlafzimmer, wo ein fröhliches Feuer brannte und eine riesengroße, schneeweiße Angorakatze behaglich hingestreckt auf dem Teppich vor dem Kamine lag.
"Die Haushälterin vom Schlosse schickt sie," erklärte Mary. "Die ist eine brave Dame und hat überall nach dem Rechten gesehen und alles eingerichtet. Ich hab' sie auch schon gesehen, und sie hat den Herrn Kapitän selig arg gern gehabt und ist betrübt, daß er tot ist, und dann hat sie gesagt, 's könne leicht sein, daß die Katze Ihnen die Stube heimeliger macht, wenn sie so faul daliegt. Den Herrn Kapitän selig hat sie schon gekannt, wie er ein Kind war, und er sei ein schöner Jung' gewesen, sagte sie, und dann ein feiner Herr, der auch für geringe Leute ein gutes Wort gehabt hat. Da hab' ich zu ihr gesagt: ›Er hat gerade so einen Sohn zurückgelassen‹ ja und dann hab' ich gesagt: ›Kein hübscherer Junge hat je Schuhe zerrissen, solange die Welt steht.‹"
Nachdem Mutter und Sohn etwas Toilette gemacht, gingen sie wieder ins Erdgeschoß in ein ebenfalls großes, helles Zimmer. Die Decke war getäfelt, der Raum nicht hoch, die tiefen, breiten Stühle hatten hohe geschnitzte Lehnen, und allerhand kleine Wandschränkchen, Schlüsselbretter und eigentümliche Verzierungen waren in den ebenfalls getäfelten Wänden angebracht; vor dem Kamin lag ein mächtiges Tigerfell und zwei bequeme Lehnstühle standen zu beiden Seiten. Die würdevolle weiße Katze fand es offenbar recht angenehm, sich von Lord Fauntleroy streicheln zu lassen, und hatte sich ihm sofort angeschlossen, und als er sich nun auf das prächtige Fell legte, rollte sie sich majestätisch an seiner Seite auf, wodurch die Freundschaft besiegelt war. Cedrik schmiegte sein Köpfchen neben ihr in das weiche Fell und nahm keine Notiz von dem Gespräch zwischen seiner Mutter und Mr. Havisham, zumal beide halblaut sprachen. Mrs. Errol war sehr blaß und sichtlich bewegt.
"Heute nacht muß er doch nicht schon gehen?" fragte sie, "Heute nacht darf er doch noch bei mir bleiben?"
"Gewiß," erwiderte Mr. Havisham, "es ist keineswegs nötig, daß er heute nacht geht. Ich werde mich nach Tische aufs Schloß begeben und Seine Herrlichkeit von unsrer Ankunft in Kenntnis setzen."
Mrs. Errol warf einen Blick auf Cedrik, der mit unbewußter Anmut auf dem bunten Fell hingestreckt lag, während das Feuer im Kamin wechselnde Lichter auf sein golden schimmerndes Haar warf.
"Der Graf weiß nicht, was er mir nimmt," sagte sie mit schmerzlichem Lächeln und setzte dann, zu dem Advokaten aufblickend, hinzu: "Wollen Sie die Güte haben, ihm zu sagen, daß ich sein Geld nicht will?"
"Sein Geld? Sie sprechen doch nicht von dem Jahreseinkommen, das er für Sie ausgesetzt hat?"
"Doch," antwortete sie einfach, aber bestimmt. "Ich möchte dasselbe lieber nicht haben. Die Wohnung hier muß ich annehmen und bin dankbar dafür, denn ich könnte ja sonst nicht in der Nähe meines Kindes bleiben; aber ich habe ein kleines Vermögen, das hinreicht, um bescheiden davon leben zu können, und mehr brauche ich nicht. Bei der Natur unsrer Beziehungen könnte ich keine Wohlthaten von ihm annehmen, ohne das Gefühl zu haben, ihm Cedrik zu verkaufen, und ich lasse ihn doch nur von mir, weil ich nicht an mich denke, sondern an sein Bestes, und weil sein Vater es wünschen würde."
"Seltsam, sehr seltsam," sagte Mr. Havisham, sein Kinn reibend. "Der Graf wird sich ärgern, wird es ganz und gar nicht verstehen."
"Ich glaube doch, wenn er sich's überlegt. Nötig habe ich das Geld nicht, und Luxus annehmen von seiten eines Mannes, der mich so sehr haßt, daß er mir meinen Sohn nimmt, könnte ich nicht."
Kurz darauf wurde die Mahlzeit aufgetragen, an der alle drei teilnahmen und bei der sich auch die Katze einfand, die unter vergnüglichem Schnurren den Stuhl neben Ceddie für sich in Anspruch nahm.
Im Verlaufe des Abends begab sich Mr. Havisham noch nach dem Schlosse, wo er sofort von dem Hausherrn empfangen wurde. Er fand ihn in einem bequemen Fauteuil am Kamin, das gichtkranke Bein auf einer Fußbank. Ein scharfer, fragender Blick flog unter den buschigen Augenbrauen hervor, und Mr. Havisham erkannte wohl, daß er trotz aller zur Schau getragenen Gleichgültigkeit in großer Unruhe und gespannter Erwartung war.
"Da sind Sie ja, Havisham! Gut angekommen? Was gibt's Neues?"
"Lord Fauntleroy und seine Mutter sind in Court Lodge angelangt. Beiden ist die Reise gut bekommen und ihr Befinden ist vortrefflich."
"Freut mich, zu hören," sagte der Graf mit einer etwas ungeduldigen Handbewegung. "Machen Sie sich's bequem und nehmen Sie ein Glas Wein. Was sonst?"
"Der junge Lord bleibt heute nacht bei seiner Mutter. Morgen werde ich ihn ins Schloß bringen."
Der Arm des Grafen hatte auf der Stuhllehne geruht, nun hielt er sich plötzlich die Hand vor die Augen.
"Nun so reden Sie doch weiter. Briefliche Mitteilungen hatte ich mir ja verbeten, und so weiß ich noch von gar nichts. Was für eine Sorte ist der Bursche? Von der Mutter will ich nichts hören, nur von dem Jungen."
Mr. Havisham kostete den alten Portwein, den er sich eingegossen hatte, und hielt das Glas in der Hand.
"Es ist schwierig, über den Charakter eines Kindes von sieben Jahren ein Urteil abzugeben," begann er vorsichtig.
"Er ist also ein Schafskopf?" rief der alte Herr rasch aufblickend. "Oder ein schwerfälliger Tölpel? Das amerikanische Blut schlägt vor, hm?"
"Ich glaube kaum, daß ihm dasselbe zum Nachteil gereichte, Mylord," erwiderte der Advokat in seiner trockenen, kühlen Weise. "Ich verstehe mich nicht besonders auf Kinder, aber ich halte ihn für einen hübschen Jungen."
Vorsichtig und zurückhaltend in seinen Aeußerungen zu sein, war Havishams Art, und er kehrte sie heute mehr als je hervor, denn er wollte, daß der Graf selbst urteilen und seinen Enkel kennen lernen sollte, ohne irgendwie beeinflußt zu sein.
"Gesund? Gut gewachsen?"
"Offenbar ganz gesund und gut gewachsen."
"Gerade Glieder – menschliche Physiognomie?"
Ein leises Lächeln flog um Mr. Havishams dünne Lippen, als er an den rosigen Blondkopf dachte, wie er ihn zuletzt auf dem Tigerfell hatte liegen sehen.
"Ein ziemlich hübsches Kind, soweit man das von einem Jungen sagen kann, und soweit ich mich drauf verstehe. Aber Sie werden ihn einigermaßen verschieden von den englischen Kindern finden."
"Zweifle nicht daran," brummte der Graf mit einem Zucken in dem kranken Beine. "Freches, vorlautes Volk, diese amerikanischen Kinder! Habe oft genug davon gehört."
Mr. Havisham trank seinen Portwein und eine kleine Pause folgte.
"Ich habe einen Auftrag von Mrs. Errol zu bestellen," bemerkte er ruhig.
"Verschonen Sie mich damit! Je weniger ich von der Person höre, desto besser!"
"Die Sache muß doch erörtert werden. Sie zieht es vor, die ihr von Ihnen ausgesetzte Jahresrente nicht anzunehmen."
"Was soll das heißen?" rief der Graf auffahrend. "Was soll das heißen?"
Mr. Havisham wiederholte seine Mitteilung und setzte hinzu: "Sie sagt, sie bedürfe der Summe nicht, und da die Beziehungen zwischen ihr und Ihnen nicht freundlicher Art seien –"
"Nicht freundlicher Art! Das will ich meinen! Der bloße Gedanke an sie ist mir zuwider. Eine geldgierige Amerikanerin mit schriller Stimme! Ich will sie nicht sehen!"
"Mylord, geldgierig können Sie die Dame doch kaum nennen. Sie hat nicht nur nichts verlangt, sondern das ihr Angebotene abgelehnt."
"Bloßer Kunstgriff," grollte der edle Lord. "Damit will sie mich dran kriegen, daß ich sie sehen soll und womöglich ihren Geist bewundern, wovor ich mich wohl hüten werde. Amerikanischer Trotz! Ich will nicht, daß sie als Bettlerin vor meinem Thore wohnt. Sie ist die Mutter des Jungen und hat als solche eine Stellung zu wahren und soll sie wahren. Sie wird das Geld bekommen, ob sie will oder nicht! Damit will sie nur ihrem Jungen eine schlechte Meinung von mir beibringen! Wird ihn ohnehin schon genügend gegen mich eingenommen haben."
"Nein," sagte Mr. Havisham. "Ich habe Ihnen in dieser Hinsicht noch etwas von Mrs. Errol zu bestellen."
"Was ich nicht hören will!" stieß Seine Herrlichkeit, keuchend vor Aerger und Gichtschmerzen, hervor.
Mr. Havisham aber fuhr ungerührt fort: "Sie läßt Sie bitten, in Lord Fauntleroys Gegenwart nichts zu äußern, was ihm klar machen könnte, daß Sie ihr nicht wohlwollen. Der Knabe hängt sehr an ihr, und sie ist überzeugt, daß ihn dies Ihnen entfremden würde. Sie hat ihm einfach gesagt, daß er noch zu jung sei, um die Gründe der Trennung von ihr zu verstehen, und zwar, weil sie wünscht, daß auch kein Hauch des Mißtrauens gegen Sie in des Knaben Herz aufkomme."
Der Graf war in seinen Stuhl zurückgesunken; seine tiefliegenden, feurigen Augen funkelten hinter den starken Augenbrauen.
"Seien Sie vernünftig, Havisham," sprach er mühsam, "Sie werden mir nicht weismachen wollen, daß die Mutter ihm nichts gesagt hat."
"Nicht eine Silbe, Mylord," versetzte der Advokat ruhig. "Der Knabe sieht in Ihnen nichts als den zärtlichen Großpapa. Nichts – absolut nichts ist je geäußert worden, was ihm auch nur den leisesten Zweifel an Ihrer Vollkommenheit erwecken könnte, und da ich Ihre Befehle in Bezug auf seine etwaigen Wünsche genau ausgeführt habe, sieht er in Ihnen den Inbegriff aller Großmut und Güte."
"Wahrhaftig? Allen Ernstes?"
"Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß es einzig in Ihrer Hand liegt, wie Sie das Verhältnis zu Lord Fauntleroy gestalten wollen, und wenn ich mich unterfangen dürfte, Eurer Herrlichkeit einen Rat zu geben, so wäre es der, nie verletzend von seiner Mutter zu sprechen."
"Pah, pah! Ein Junge von sieben Jahren!"
"Der diese sieben Jahre an der Seite einer Mutter verlebt hat, der sein ganzes Herz gehört."
Fünftes Kapitel
Im Schlosse
Es war spät am Nachmittag, als der Wagen, der den kleinen Lord Fauntleroy und Mr. Havisham zum Schlosse brachte, die lange Avenue daherrollte. Der Graf hatte angeordnet, daß sein Enkel kurz vor Tische im Schlosse eintreffen und ferner, daß er, aus nur ihm bekannten Gründen, allein in das Zimmer geführt werden sollte, wo er ihn zu empfangen gedachte. Cedrik lehnte sich behaglich in die Wagenkissen zurück und beobachtete alles mit großem Interesse. Der Wagen selbst, die großen stattlichen Pferde mit ihrem blitzblanken Geschirre, der würdevolle Kutscher und der stattliche Diener in ihren eleganten Livreen, alles fesselte seine Aufmerksamkeit.
Als der Wagen vor dem Parkthore hielt, beugte er sich aus dem Fenster, um die riesigen steinernen Löwen zu studieren, die den Eingang schmückten. Aus der hübschen epheuumrankten Portierswohnung trat eine rundliche, freundliche Frau, um das Thor zu öffnen. Zwei Kinder folgten ihr auf dem Fuße und starrten mit weit aufgerissenen, verwunderten Augen auf den kleinen Jungen im Wagen, indes die Mutter lächelnd knickste.
"Kennt sie mich denn?" fragte Lord Fauntleroy seinen Begleiter. "Ich glaube, sie weiß, wer ich bin," und dabei nahm er seine schwarze Samtmütze ab und grüßte freundlich.
"Guten Tag!" sagte er mit heller Stimme. "Wie geht's Ihnen?"
Die Frau war sichtlich erfreut, sie lachte übers ganze Gesicht, und ihre blauen Augen blickten ihn warm und herzlich an.
"Gott segne Eure Herrlichkeit!" sagte sie. "Gott segne Ihr freundliches Gesicht! Glück und Frohsinn Euer Herrlichkeit! Willkommen in Dorincourt!"
Lord Fauntleroy schwenkte seine Mütze und nickte ihr mehrmals zu, indes der Wagen weiter fuhr.
"Die Frau gefällt mir," sagte er. "Sie sieht aus, als ob sie Freude an Jungens hätte. Ich werde sie besuchen und mit den Kindern spielen – ob sie wohl so viele hat, daß man eine ordentliche Compagnie zusammenbringen könnte?"
Mr. Havisham hielt es nicht für nötig, ihm zu sagen, daß er schwerlich Erlaubnis erhalten werde, mit den Portierskindern Kameradschaft zu schließen – derlei Weisheit kam immer noch zeitig genug.
Der Wagen fuhr rasch dahin zwischen den prachtvollen alten Riesenbäumen, deren Zweige sich bis auf den Boden ausbreiteten. Cedrik wußte nicht, daß das Schloß Dorincourt einer der schönsten Landsitze Englands war und daß der Park und seine alten Bäume ihresgleichen suchten, aber er empfand die Schönheit, die ihn umgab. Die untergehende Sonne warf ihre schrägen Strahlen auf den Rasen, ringsum herrschte tiefe, wundersame Stille. Mehrmals fuhr der Knabe mit einem kleinen Aufschrei in die Höhe, wenn ein Kaninchen aus dem Blätterwerk huschte, und als plötzlich ein Volk Rebhühner vor ihnen aufstieg, klatschte er glückselig in die Hände.
"Hier ist's aber schön!" rief er. "So was habe ich nie gesehen. Es ist schöner als der Centralpark!"
Die lange Dauer der Fahrt setzte ihn sehr in Erstaunen.
"Wie weit ist es denn," fragte er endlich, "vom Parkthor bis zum Schlosse?"
"Drei bis vier Meilen," erwiderte Mr. Havisham.
"Einen langen Weg hat der Großvater bis zu seinem eignen Thore," bemerkte der kleine Lord nachdenklich.
Jeden Augenblick entdeckte er etwas Neues, als er aber das Hochwild gewahrte, das teils im Grase lag, teils auf das Geräusch des Wagens hin die hübschen Köpfe mit den mächtigen Geweihen erhoben hatte, war er ganz außer sich.
"Ist denn ein Cirkus dagewesen," rief er jubelnd, "oder leben die immer hier? Wem gehören sie?"
"Deinem Großvater," belehrte Mr. Havisham.
Bald darauf kam das Schloß in Sicht. Der schöne, stolze Bau erhob sich grau und ehrwürdig vor ihnen, die letzten Strahlen der Abendsonne glitzerten auf den zahlreichen Fenstern. Giebel und Türme und Zinnen hoben sich klar vom Abendhimmel ab, der ganze Bau war von üppigem Epheu umrankt und auf den breiten Terrassen, die zum Eingang hinaufführten, waren reiche, farbenprächtige Blumenbeete.
"Das ist das Allerschönste, was ich je gesehen habe," rief Ceddie mit leuchtenden Augen. "Wie ein Königsschloß, so war gerade eins in meinem Märchenbuche!"
Er sah, wie die schweren Thürflügel aufgerissen wurden, und sah die Dienerschaft in zwei Reihen antreten, was ihn sehr in Erstaunen setzte, da es ihm nicht in den Sinn kam, daß dies zu Ehren des kleinen Jungen geschah, dem einst all' diese Pracht und Herrlichkeit zu eigen sein würde – das Schloß aus dem Märchenbuche, die großen alten Bäume, der herrliche Park, die Gründe voll Farnkraut und Glockenblumen, wo die Hasen und Kaninchen umhersprangen und die großäugigen gefleckten Hirsche und Rehe, die im tiefen Grase lagerten. Kaum ein paar Wochen war es her, daß er in Mr. Hobbs' Laden gesessen hatte und seine Beinchen von dem hoben Schreibstuhle herunterbaumelten, und er konnte unmöglich all diese Pracht und Feierlichkeit auf sein kleines Ich beziehen. An der Spitze der Dienerschaft stand eine ältliche Frau in glattem, schwerem schwarzen Seidenkleide, mit einer Haube auf dem grauen Haare. Als er die Halle betrat, stand sie ihm zunächst und Cedrik sah ihr an, daß sie mit ihm sprechen wolle. Mr. Havisham, der ihn an der Hand führte, stand einen Augenblick still.
"Hier bringe ich Lord Fauntleroy, Mrs. Mellon," sagte er. "Lord Fauntleroy, dies ist Mrs. Mellon, die Haushälterin."
Cedrik gab ihr mit einem freudigen Aufleuchten die Hand.
"Haben Sie uns die Katze geschickt?" fragte er. "Ich danke Ihnen tausendmal dafür!"
Das hübsche Gesicht der alten Frau glänzte gerade so freudig wie das der Portiersfrau.
"Ich würde Seine Herrlichkeit an jedem Orte erkannt haben," sagte sie zu Mr. Havisham, "er ist ja ganz und gar sein Vater. Das ist ein großer Tag heute, Sir."
Cedrik sah sie neugierig an und hätte für sein Leben gern gewußt, weshalb gerade heute ein großer Tag sei. Noch befremdlicher war ihm, daß sie Thränen in den Augen hatte und doch offenbar nicht traurig war, denn sie lächelte ihn freundlich an.
"Die Katze hat zwei wunderhübsche Junge hier gelassen," sagte sie, "man wird sie sofort auf Eurer Herrlichkeit Zimmer bringen."
Mr. Havisham richtete halblaut eine Frage an sie.
"In der Bibliothek, Sir," erwiderte Mrs. Mellon. "Der Lord Fauntleroy soll allein vorgelassen werden."
Ein paar Minuten darauf öffnete der stattliche Livreebediente, der Cedrik zu der Bibliothek geführt hatte, die Thür derselben und meldete: "Lord Fauntleroy, Mylord." Er that es mit besondrer Feierlichkeit, denn auch er fühlte, daß es ein großer Moment war, wo der Erbe sein Eigentum betrat und dem Familienhaupte vorgestellt wurde, dessen Rang und Besitz dereinst sein eigen werden sollte.
Cedrik schritt über die Schwelle. Es war ein großer, prächtiger Raum mit schweren, geschnitzten, eichnen Möbeln, die Wände bis hoch hinauf mit Büchergestellen bedeckt. Die Möbel waren so dunkel, die Vorhänge so schwer, die Fensternischen so tief und die Entfernung zwischen Thür und Fenster so groß, daß nun, nach Sonnenuntergang, der ganze Eindruck des Raumes ein düsterer war. Im ersten Augenblicke glaubte Cedrik, daß überhaupt niemand im Zimmer sei, entdeckte aber gleich darauf vor dem Feuer, das trotz des warmen Abends in dem riesigen Kamin brannte, in einem bequemen, Lehnstuhl eine Gestalt, die sich aber nicht nach ihm umwendete.
Bei einem andern Bewohner des Zimmers hatte er jedoch Aufmerksamkeit erregt. Neben dem Lehnstuhle lag an der Erde ein Hund, eine ungeheure braungelbe Dogge, fast so groß und gewaltig wie ein Löwe – majestätisch und langsam erhob sich das mächtige Tier und ging mit schwerem, wuchtigem Schritt auf die schlanke Kindesgestalt zu.
"Dougal," erklang nun eine Stimme aus dem Lehnstuhle, "hierher."
Allein dem Herzen des jungen Lord war Furcht so fremd wie alles Böse, und er war von jeher ein tapferer kleiner Geselle gewesen. Vertraulich und ruhig legte er sein Händchen an des Ungeheuers Halsband und dann schritten sie einträchtig miteinander auf den Grafen zu.
Endlich blickte dieser auf und Cedrik sah in das Gesicht eines großen alten Mannes mit wirrem, weißem Haar, buschigen Augenbrauen und einer kühnen Adlernase zwischen den feurigen, blitzenden Augen. Der Graf aber erblickte eine anmutige Kindergestalt in einem schwarzen Samtanzug mit breitem Spitzenkragen und weichen blonden Locken, die das frische, rosige Gesicht umrahmten, aus dem ein Paar großer brauner Augen ihm treuherzig entgegenleuchtete. Wie ein plötzlicher Jubelruf und ein frohlockendes Triumphieren zog's dem harten alten Manne durchs Herz, als er wahrnahm, was für ein kräftiger, schöner Knabe sein Enkel war, und wie unerschrocken er ihm ins Gesicht sah, die Hand noch immer auf dem Halse seines riesigen Hundes. Es that dem herrischen alten Edelmanne im Innersten wohl, daß der Junge keine Schüchternheit und keine Furcht verriet, weder vor ihm noch vor seinem Hunde.
"Bist du der Graf?" sagte Cedrik mit seinem freundlichen Lächeln. "Ich bin dein Enkel, den Mr. Havisham geholt hat – Lord Fauntleroy."
Er streckte ihm dabei sein Händchen hin, was er für angemessen und höflich hielt auch bei Grafen. "Ich hoffe, es geht dir gut," fuhr er herzlich fort, "und ich freue mich sehr, dich zu sehen."
Der Graf schüttelte ihm die Hand und es zuckte wunderlich über sein Gesicht; fürs erste war er so überrascht, daß er kaum wußte, was er sagen solle. Er blickte unverwandt auf das hübsche kleine Bild, das da in Fleisch und Blut vor ihm stand.
"Du freust dich wirklich, mich zu sehen?"
"Gewiß," versicherte Lord Fauntleroy, "sehr."
Ein Stuhl stand neben dem des Grafen und Cedrik setzte sich. Das hochlehnige, breite Möbel war für ein andres Format von Sitzenden berechnet und die Beinchen des Kleinen reichten bei weitem nicht auf den Boden, allein es schien ihm doch ganz behaglich darauf zu sein und er blickte das ehrwürdige Familienhaupt bescheiden aber unverwandt an.
"Ich habe mir immer Gedanken gemacht, wie du wohl aussehen würdest," begann er wieder. "Auf dem Schiffe, wenn ich so in meinem Bette lag, habe ich immer gedacht, ob du wohl meinem Papa ähnlich siehst."
"Nun, und findest du das?" fragte der Graf.
"Ach, du weißt ja, ich war noch sehr klein, als er gestorben ist, und da kann's wohl sein, daß ich mich nicht genau erinnere, aber ich meine, du siehst ganz anders aus."
"Enttäuscht also – hm?"
"O, ganz und gar nicht!" versicherte der kleine Kritiker höflich. "Natürlich hätte ich mich ja gefreut, wenn du wie mein Papa wärest, aber jedes Kind ist doch ganz zufrieden damit, wie sein Großvater aussieht, auch wenn es ihn sich anders gedacht hat. – Du weißt ja, Verwandte bewundert man immer."
Der Graf lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sah einigermaßen verblüfft drein. Er hatte im Bewundern seiner Verwandten leider wenig Erfahrung; er hatte seine Mußestunden meist dazu verwendet, sich mit ihnen zu zanken, sie aus dem Hause zu jagen und allerhand schmeichelhafte Benennungen für sie zu erfinden, weshalb er auch bei allen gründlich verhaßt war.
"Jedes Kind hat seinen Großvater lieb," fuhr Lord Fauntleroy fort, "besonders einen, der so gut ist, wie du es gegen mich gewesen bist."
Wieder flog ein seltsamer, rascher Blick aus den tiefliegenden Augen zu ihm hinüber.
"Ach so," sagte er, "ich bin also gut gegen dich gewesen, meinst du?"
"Freilich," erwiderte Cedrik fröhlich, "und ich bin dir auch so dankbar wegen Bridget und der Apfelfrau und Dick."
"Bridget?" wiederholte der Graf, "Dick, die Apfelfrau?"
"Ja natürlich," erläuterte Cedrik, "alle die, für welche du mir das viele Geld gegeben hast – das Geld, das Mr. Havisham mir zu meinem Vergnügen von dir gebracht hat."
"Ach so! Davon ist die Rede! Das Geld, das du ausgeben durftest. Nun, was hast du dir dafür gekauft? Ich möchte gern etwas darüber erfahren."
Er zog die dichten Augenbrauen in die Höhe und faßte den Knaben scharf ins Auge; er war wirklich neugierig, in welcher Weise derselbe seine kleinen Launen befriedigt haben mochte.
"O," begann Lord Fauntleroy, "am Ende hast du gar nichts von Dick und Bridget und der Apfelfrau gewußt. Ich habe gar nicht daran gedacht, wie weit weg du wohnst. Die sind nämlich besondre Freunde von mir und, mußt du wissen, Michael hat das Fieber gehabt."
"Wer ist denn Michael?" fiel ihm der Graf ins Wort.
"Michael? Ach, das ist Bridgets Mann und die waren in großer Not. Wenn ein Mann krank ist und nicht arbeiten kann und zwölf Kinder hat, kannst du dir ja denken, wie das ist."
Nun folgte die ausführliche Schilderung aller Leiden der armen Bridget und ihres Jubels, als er ihr das Geld "von dir, Großvater!" hatte geben dürfen, und "deshalb bin ich dir so dankbar," schloß er seinen Bericht.
"So so!" bemerkte der Graf mit seiner tiefen Stimme, "das war also eins von den Dingen, die du zu deinem Vergnügen thatest. Nun, und was hast du sonst mit deinem Reichtum angefangen?"
Dougal hatte sich, nachdem Cedrik Platz genommen, neben dessen Stuhl gesetzt und hatte ihm mehrmals, wenn er so lebhaft sprach, ernsthaft ins Gesicht geblickt, als ob ihm diese Unterredung höchst interessant wäre. Dougal war ein würdevoller, feierlicher Hund, viel zu ernst und zu groß, um das Leben leicht zu nehmen. Der alte Graf, der ihn genau kannte, hatte ihn insgeheim aufmerksam beobachtet. Es war sonst nicht des Tieres Art, rasch Bekanntschaften zu schließen, und sein Herr war überrascht, wie ruhig er sich unter dem Druck der Kinderhand verhielt, nun aber sah sich Dougal den kleinen Lord noch einmal prüfend und würdevoll an, um gleich darauf seinen gewaltigen Löwenkopf auf das schwarze Samtknie des Jungen zu legen, der den neuen Freund gelassen streichelte, indem er dem Grafen zur Antwort gab: "Ja, da war dann die Geschichte mit Dick. Dick, der würde dir gefallen, der ist ein famoser Bursche."
Der alte Herr sah etwas verwundert drein.
"Er ist so ehrlich," fuhr Ceddie mit Wärme fort, "und er greift nie einen Jungen an, der kleiner ist, als er, und die Stiefel macht er so blank, daß sie wie ein Spiegel sind: er ist nämlich Schuhputzer,"
"Und auch ein Bekannter von dir – hm?"
"Ein alter Freund von mir," versetzte der Enkel, "kein so alter wie Mr. Hobbs, aber wir kennen uns auch schon sehr lange. Gerade ehe das Schiff abgefahren ist, brachte er mir ein Geschenk," dabei zog er einen sorgfältig zusammengelegten Gegenstand aus der Tasche und entfaltete mit zärtlichem Stolze das pompöse rotseidene Tuch mit den geschmackvollen Hufeisen.
"Das hat er mir gegeben, das soll ich immer tragen. Man kann's als Halstuch benutzen oder auch als Taschentuch. Er hat's von dem ersten Gelde gekauft, das er verdient hat, nachdem Jack ausbezahlt war und er die neuen Bürsten von mir bekommen hatte – 's ist ein Andenken. In die Uhr für Mr. Hobbs hab ich einen Vers schreiben lassen: ›Die Uhr, sie spricht: Vergiß mich nicht,‹ und ich werde Dick auch nicht vergessen; so oft ich das Tuch sehe, werde ich an ihn denken."
Die Empfindungen Seiner Herrlichkeit des Grafen Dorincourt waren nicht leicht zu schildern. Ein gut Stück Welt und Menschen aller Art hatte er gesehen und war eben nicht leicht zu verblüffen; aber hier trat ihm etwas so Neues und Unerhörtes entgegen, daß es ihm fast den Atem benahm und die merkwürdigste Erregung in dem alten Edelmanne hervorrief. Er hatte sich nie mit Kindern beschäftigt; seine Passionen und Vergnügungen hatten ihm dazu nie Muße gelassen, und seine eignen Jungen waren ihm nie sehr interessant gewesen – höchstens erinnerte er sich dunkel, daß Cedriks Vater ein hübscher, kräftiger Knabe gewesen war. Im allgemeinen war ihm ein Kind immer wie ein höchst lästiges kleines Tier vorgekommen, gefräßig, egoistisch und lärmend, wenn man es nicht in strenger Zucht hielt. Seine beiden Aeltesten hatten ihren Erziehern und Lehrern stets Grund zu Klagen und Verdruß gegeben, und von dem Jüngsten glaubte er nur deswegen weniger Schlimmes gehört zu haben, weil derselbe als solcher für keinen Menschen von Bedeutung war. Daß er seinen Enkel lieb gewinnen könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen – er hatte ihn in sein Haus bringen lassen, weil er seinen Namen dereinst nicht durch einen unerzogenen Lümmel wollte lächerlich machen lassen und er überzeugt war, daß der Junge in Amerika nur ein Halbnarr oder ein clownartiges Geschöpf werden konnte. Er hatte an seinen Söhnen so viel Demütigungen erlebt und war über Kapitän Errols amerikanische Heirat so entrüstet, daß er etwas Erfreuliches bei seiner Nachkommenschaft nicht mehr vermutete, und als der Diener ihm Lord Fauntleroy gemeldet, hatte er sich fast gefürchtet, den Jungen anzusehen. Das war auch der Grund, weshalb er ihn hatte allein sehen wollen; seinem Stolz war der Gedanke eines Zeugen seiner Enttäuschung unerträglich. Aber selbst in den Stunden, wo er mit mehr Hoffnung in die Zukunft geblickt, hatte er sich nie träumen lassen, daß sein Enkel so aussehen könnte, wie die entzückende Kindergestalt, die, das Händchen auf dem Kopfe seines etwas gefährlichen Lieblings, so zuversichtlich und vertrauensvoll vor ihn trat. Diese Ueberraschung brachte den harten alten Mann schier um seine Fassung.
Und dann begann ihre Unterhaltung, in deren Verlauf sein Erstaunen sich mehr und mehr steigerte. Erstens einmal war er seiner Lebtage gewöhnt, die Leute in seiner Gegenwart scheu und verlegen zu sehen, und hatte deshalb von seinem Enkel auch nichts andres erwartet; statt dessen sah der kleine Junge in ihm offenbar nichts als einen Freund, dessen Liebe ihm von Gott und Rechts wegen gehörte, und behandelte ihn als solchen. Wie der kleine Bursche so dasaß in dem großen Stuhle und mit seiner weichen Stimme herzlich und fröhlich plauderte, ward es ihm ganz klar, daß der Gedanke, der große, grimmig dreinschauende alte Mann könnte ihn nicht lieb haben oder sich nicht freuen, ihn bei sich zu sehen, nie in des Kindes Sinn gekommen war, und daß Cedrik seinerseits ebenso kindlich und zuversichtlich bestrebt war, dem Großvater zu gefallen. Hart, grausam und hochfahrend, wie der alte Graf war, konnte er sich doch einer heimlichen Freude bei dieser neuen Empfindung nicht entschlagen und fand es, bei Lichte besehen, recht angenehm, einmal jemand zu begegnen, der ihm nicht mißtraute, nicht vor ihm zurückschreckte und die schlimmen Seiten seiner Natur nicht ahnte, jemand, der ihn mit hellen Augen vertrauensvoll ansah – und wär's auch nur ein kleiner Junge in einem schwarzen Samtanzuge!
So lehnte sich der alte Mann behaglich in seinen Stuhl zurück und ermunterte seinen jungen Gefährten zum Plaudern, wobei es immer seltsam um seine Mundwinkel zuckte. Lord Fauntleroy entfaltete sein ganzes Konversationstalent und schwatzte unbefangen und vertraulich; die ganze Geschichte von Dick und Jack, die Verhältnisse der Apfelfrau aus altem Geschlecht und seine Freundschaft mit Mr. Hobbs wurden dem Großvater anvertraut, woran sich dann eine begeisterte Schilderung des republikanischen Wahltriumphes in all seiner Pracht und Herrlichkeit samt Bannern, Transparenten, Fackeln und Raketen anschloß. Schließlich kam er auch auf den 4. Juli zu sprechen und geriet in große Ekstase, bis ihm plötzlich etwas in den Sinn kam und er unvermittelt abbrach.
"Nun, was gibt's?" fragte der Großvater. "Weshalb sprichst du nicht weiter?"
Lord Fauntleroy rückte verlegen auf seinem Stuhle hin und her.
"Es fiel mir eben ein, daß du das vielleicht nicht gerne hörst," erwiderte er. "Vielleicht ist einer von deinen Angehörigen dabei gewesen. Ich habe gar nicht daran gedacht, daß du ein Engländer bist."
"Sprich nur ruhig weiter," sagte Mylord. "Ich habe keine persönlichen Beziehungen zu der Sache. Du hast wohl auch vergessen, daß du ein Engländer bist."
"O nein," fiel ihm Cedrik rasch ins Wort, "ich bin ein Amerikaner."
"Du bist ein Engländer," erklärte der alte Herr kurz. "Dein Vater war ein Engländer."
Die Sache war ihm ziemlich spaßhaft. Cedrik dagegen nahm es sehr ernst. Auf eine solche Auffassung der Dinge war er nicht vorbereitet gewesen, und sein Gesichtchen ward dunkelrot.
"Ich bin in Amerika geboren," protestierte er, "und wenn man in Amerika geboren ist, muß man ein Amerikaner sein. Es thut mir leid, daß ich dir widersprechen muß," setzte er artig und rücksichtsvoll hinzu. "Mr. Hobbs hat mir gesagt, daß, wenn wieder einmal ein Krieg käme, ich ein Amerikaner sein müßte."
Der Graf stieß ein kurzes Lachen aus, es klang hart und grimmig, aber es war doch ein Lachen.
"Und das würdest du thun?" sagte er.
Er haßte Amerika und die Amerikaner, aber der ernsthafte eifrige Patriotismus des kleinen Mannes ergötzte ihn, und er sagte sich, daß aus diesem guten Amerikaner seiner Zeit ein guter Engländer werden könne.
Weitere Vertiefung in die Politik ward durch die Meldung, daß aufgetragen sei, abgeschnitten. Cedrik erhob sich sofort und ging zum Großvater hin, mit einem bedenklichen Blick auf dessen gichtisches Bein.
"Soll ich dir helfen?" fragte er freundlich. "Du kannst dich auf mich stützen, weißt du. Einmal hat Mr. Hobbs einen schlimmen Fuß gehabt, weil ihm ein Kartoffelsack darauf gefallen war, da hab' ich ihn immer geführt."
Der feierliche Diener hätte fast seine Stellung und seinen Ruf durch ein unziemliches Lächeln aufs Spiel gesetzt. Es war ein sehr vornehmer Diener, der immer nur in aristokratischen Diensten gestanden hatte und sich vollständig entwürdigt und entehrt gefühlt haben würde, wenn er sich etwas so Unverzeihliches gestattet hätte, wie ein Lächeln in Gegenwart der Herrschaft. Diesmal aber war die Gefahr groß gewesen, und er konnte sich nur dadurch retten, daß er über seines Herrn Schulter hinweg unverwandt auf ein besonders häßliches Bild hinstarrte.
Der Graf maß den ritterlichen kleinen Knirps von Enkel vom Kopf bis zu den Füßen.
"Meinst du, daß du das könntest?" fragte er rauh.
"Ich glaube ja," erwiderte Cedrik. "Ich bin sehr stark, weißt du, bin auch schon sieben. Du kannst dich auf einer Seite auf deinen Stock stützen und auf der andern auf mich. Dick sagt, daß ich gute Muskeln habe für einen Jungen von sieben."
Er streckte den Arm stramm aus, damit der Graf die Kraft seiner von Dick belobten Muskeln sehe, und sah dabei so ernsthaft und wichtig drein, daß der Bediente wieder genötigt war, seine volle Aufmerksamkeit dem häßlichen Bilde zuzuwenden.
"Wohl und gut," entschied der Graf, "du sollst's versuchen."
Cedrik reichte ihm seinen Stock und half ihm beim Aufstehen. Dies war in der Regel des Bedienten Amt, der dabei manch' derben Fluch zu hören kriegte und oft und viel innerlich vor Empörung knirschte. Heute ging die Sache ohne Fluchen ab, obwohl die Gicht manch bösen Reißer that, allein der Graf wollte nun einmal den Versuch machen. Langsam erhob er sich und legte die Hand auf die schmale Schulter, die ihm so mutig als Stütze geboten wurde. Vorsichtig that Lord Fauntleroy einen Schritt vorwärts und sah dabei sorgfältig auf das kranke Bein.
"Stütze dich nur recht fest auf mich," sagte er ermutigend. "Ich will ganz langsam gehen."
Wenn der Graf seinen Diener zum Führer gehabt hätte, würde er sich allerdings weniger auf seinen Stock und mehr auf jenen gestützt haben, und doch hielt er es bei seinem Experiment auch für nötig, den Enkel sein Gewicht fühlen zu lassen, das in der That nicht leicht war. Nach wenig Schritten war denn auch das kleine Gesicht dunkelrot und sein Herz fing an, heftig zu klopfen, allein er stemmte sich mächtig gegen des Großvaters Hand und erinnerte sich Dicks Ausspruch über seine Muskeln.
"Hab nur keine Angst und stütze dich fest auf," keuchte er, "ich kann es ganz gut, wenn – wenn es nicht zu weit ist."
Es war eigentlich kein langer Weg zum Speisezimmer, und doch kam es Cedrik wie eine Ewigkeit vor, bis sie den Stuhl am oberen Ende der Tafel erreicht hatten. Die Hand auf seiner Schulter schien mit jedem Schritte wuchtiger zu lasten, sein Köpfchen ward immer heißer und sein Atem kürzer, allein er dachte nicht daran, seinen Dienst aufzugeben; er machte seine Muskeln ganz steif, hielt sich kerzengerade und sprach dem bedenklich hinkenden alten Herrn Trost zu.
"Thut dir der Fuß so sehr weh, wenn du darauf stehst?" fragte er. "Hast du ihn nie in heißes Wasser mit Senfmehl gesteckt? Das hat Mr. Hobbs gut gethan."
Der große Hund schritt gravitätisch nebenher und der Diener folgte. Mehr als einmal flog ein eigentümliches Lächeln über sein Gesicht, wenn er beobachtete, wie die kleine Gestalt all ihre Kraft zusammennahm und ihre Last so gutwillig trug, und auch des Grafen Blick streifte ein paarmal mit seltsamem Ausdrucke das erhitzte Kindergesicht.
Als sie das Speisezimmer betraten, bemerkte Cedrik, daß auch dies ein sehr großer, imposanter Raum war, und daß der Diener, welcher hinter des Grafen Stuhl stand, die Eintretenden höchst erstaunt anstarrte. Endlich war der Stuhl erreicht; die Hand löste sich von seiner Schulter und der Graf ward bequem installiert.
Cedrik zog Dicks Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirn.
"Es ist heiß heute abend, nicht?" fragte er. "Wahrscheinlich mußt du ein Feuer haben wegen – wegen deinem Fuß, nur mir kommt's ein wenig heiß vor."
Sein angeborener Takt bewahrte ihn davor, irgend etwas auch nur scheinbar zu tadeln.
"Du hast soeben ein hartes Stück Arbeit gehabt," bemerkte der Graf.
"O nein! Das war gar nicht hart, nur heiß ist mir's geworden," und damit behandelte er seine feuchten Locken energisch mit dem Taschentuche.
Lord Fauntleroys Platz am Tische war seinem Großvater gegenüber, ein breiter Armstuhl nahm auch hier die schmale Gestalt auf. Alles, was er bis jetzt gesehen hatte, die hohen weiten Räume, die kolossalen Möbel, die stattlichen hochgewachsenen Diener, der ungeheure Hund und der Großvater selbst, alles war dazu angethan, ihm die eigne Kleinheit vor Augen zu bringen. Dies beunruhigte Cedrik jedoch keineswegs; für sehr groß oder sehr wichtig hatte er sich nie gehalten, und er war mit Freuden bereit, sich auch Verhältnissen anzupassen, die etwas Ueberwältigendes für ihn zu haben schienen. Freilich hatte er kaum je so winzig ausgesehen, als in dem weiten Lehnstuhle an der feierlichen Tafel.
Trotzdem er so einsam lebte, hielt der Graf seinen Haushalt auf großem Fuße, und das Diner war ein wichtiges Moment in seinem Leben und natürlich auch in dem des Koches, für den die Tage, an welchen Seine Herrlichkeit keinen Appetit hatte, schwere Prüfungen brachten. Heute jedoch schien der Appetit besser als sonst, und die Kritik über die "Entrees" und die Bereitung der Saucen war nicht so gründlich, weil er häufig über den Tisch hinüber nach seinem Enkel blicken mußte. Er selbst sprach wenig, erhielt aber sein kleines Gegenüber gut im Zuge und fand es zu seinem eignen Erstaunen ganz unterhaltend, ihm zuzuhören. Dabei freute er sich im stillen darüber, wie fest er sich auf den kleinen Kerl gestützt hatte, um dessen Mut und Ausdauer zu prüfen, und wie vortrefflich dieser die Probe bestanden.
"Du hast deine Grafenkrone nicht immer auf?" fragte Lord Fauntleroy bescheiden.
"Nein," erwiderte der Graf mit seinem merkwürdig grimmigen Lächeln, "sie steht mir nicht besonders."
"Mr. Hobbs hat zuerst gemeint, du werdest sie immer tragen, dann sagte er aber auch, du werdest sie hier und da ablegen, wenn du den Hut aufsetzest zum Beispiel."
"Ja, ja," sagte der Graf, "gelegentlich lege ich sie ab."
Einer der Diener mußte sich plötzlich abwenden, um hinter der vorgehaltenen Hand ein eigentümliches Husten hervorzustoßen.
Cedrik hatte seine Mahlzeit zuerst beendet, lehnte sich in seinem Stuhle zurück und sah sich im Zimmer um.
"Du mußt sehr stolz sein auf dein Haus," bemerkte er, "es ist so schön und der Park, der ist so herrlich." Dann hielt er einen Augenblick inne und sah merkwürdig bedeutungsvoll zum Grafen hinüber. "Ist das Haus nicht sehr groß für nur zwei Menschen, die drin leben?"
"Groß genug jedenfalls," versetzte der Graf. "Ist dir's zu groß?"
Seine kleine Herrlichkeit zögerte einen Augenblick.
"Ich dachte nur so, daß, wenn zwei Leute drin wohnten, die nicht gut zusammen passen, dann könnte man sich recht einsam vorkommen."
"Glaubst du, daß wir gut zusammen passen werden?"
"O ja, gewiß. Mr. Hobbs und ich, wir sind sehr gute Freunde gewesen. Er war der beste Freund, den ich hatte, außer Herzlieb."
Der Graf zog die buschigen Augenbrauen ein wenig in die Höhe.
"Wer ist das, Herzlieb?"
"Meine Mama," sagte Lord Fauntleroy mit seltsam leisem, ruhigem Tone.
Die Tafel war aufgehoben und man begab sich wieder in die Bibliothek. Diesmal führte der Diener den Grafen auf der einen Seite, die andre Hand aber stützte derselbe wieder auf des Enkels Schulter, nur nicht so wuchtig wie zuvor. Nachdem der Diener sich zurückgezogen hatte, lagerte sich Cedrik auf dem Teppiche vor dem Kamine neben Dougal, streichelte den Hund und blickte schweigend auf das Feuer.
Der Graf beobachtete ihn scharf. Es war ein Ausdruck von Sehnsucht und tiefem Nachsinnen in des Kindes Augen, und ein paarmal seufzte er leise.
"Fauntleroy," begann der alte Herr schließlich, "woran denkst du?"
"An Herzlieb," erwiderte er, "und – und es wird besser sein, wenn ich ein wenig aufstehe und im Zimmer herumgehe."
Er erhob sich, steckte die Hände in die Taschen und fing an, auf und ab zu gehen. Seine Augen leuchteten verdächtig, und er hatte die Lippen aufeinander gepreßt. Aber er hielt den Kopf hoch und trat sicher und fest auf. Langsam stand Dougal auch auf, sah eine Weile zu ihm hinüber, dann schritt er auf das Kind zu und folgte ihm. Cedrik zog eine Hand aus der Tasche und legte sie dem Hunde auf den Kopf.
"Ein guter Hund, der," sagte er. "Er ist schon ganz mein Freund und weiß, wie mir's zu Mute ist."
"Wie ist dir's denn zu Mute?'' fragte der Graf.
Es war ihm unbehaglich, mit anzusehen, wie der kleine Mensch da zum erstenmal mit seinem Heimweh kämpfte, und doch freute er sich, daß Cedrik sich so tapfer hielt: der kindliche Mut gefiel ihm.
"Komm her," sagte er.
Fauntleroy kam sofort.
"Ich bin noch nie von Hause weg gewesen," sagte das Kind, die großen braunen Augen etwas mühsam aufreißend, "'s ist eine sonderbare Sache, wenn man auf einmal die ganze Nacht in jemandes Schloß bleiben soll, statt nach Hause zu gehen. Aber Herzlieb ist ja nicht so sehr weit weg, daran soll ich denken, hat sie gesagt, und – und ich bin ja schon sieben – und ich kann auch ihr Bild ansehen, sie hat mir's gegeben,"
Er fuhr mit der Hand in die Tasche und zog ein kleines Etui von dunkelblauem Samt hervor.
"Hier ist es. Sieh, wenn man daran drückt, so springt es auf und drin ist sie!"
Er lehnte sich dabei so vertrauensvoll an des Grafen Arm, als ob dies von jeher sein Platz gewesen wäre.
"Das ist sie," sagte er und sah lächelnd zu ihm auf.
Der Graf zog finster die Augenbrauen zusammen. Er wollte das Bild nicht sehen und warf trotzdem einen Blick darauf. Es erschreckte ihn förmlich, ein so junges, hübsches Gesicht vor sich zu haben, mit den nämlichen braunen Augen, wie das Kind an seiner Seite.
"Vermutlich glaubst du, sie sehr lieb zu haben?"
"Ja," erwiderte Cedrik sanft und einfach, "das glaube ich und das ist auch so. Weißt du, Mr. Hobbs war mein Freund, und Dick auch und Mary, aber Herzlieb und ich, wir sind doch die aller-allerbesten Freunde und sagen einander alles. Und ich muß auch für sie sorgen, weil mein Papa das nicht mehr thun kann – wenn ich groß bin, werd' ich arbeiten und Geld verdienen."
"Wie gedenkst du denn das anzufangen?" erkundigte sich der Großvater.
Seine kleine Herrlichkeit setzte sich wieder auf den Kaminvorsetzer, hielt das Bild in der Hand und schien sich seine Antwort reiflich zu überlegen.
"Ich habe schon gedacht, ich könnte in Mr. Hobbs' Geschäft eintreten," sagte er, "aber lieber würde ich Präsident."
"Da schicken wir dich besser ins Oberhaus," sagte der Graf.
"Ja nun, falls ich nicht Präsident werden kann und das auch ein gutes Geschäft ist, will ich's wohl thun. Spezereigeschäfte sind nicht immer unterhaltend."
Vielleicht dachte er noch weiter über den Gegenstand nach, denn er blieb ganz ruhig sitzen und sah ins Feuer. Der Graf sprach nichts mehr, lehnte sich in seinen Fauteuil zurück und beobachtete das Kind. Manch neuer, ihm fremder Gedanke mochte den alten Edelmann beschäftigen. Dougal hatte sich lang ausgestreckt, den mächtigen Kopf auf die breiten Tatzen gelegt und schlief – tiefes Schweigen herrschte.
Als eine halbe Stunde später Mr. Havisham in das Zimmer geführt wurde, machte ihm der Graf halb unwillkürlich ein hastiges Zeichen, leise aufzutreten, Dougal schlief noch immer, und neben ihm, das lockige Köpfchen auf den kleinen Arm gelegt, schlummerte Lord Fauntleroy.
Sechstes Kapitel
Der Graf und sein Erbe
Als Lord Fauntleroy am andern Morgen erwachte, hörte er ein Stimmengeflüster, und als er sich umdrehte und die Augen aufschlug, entdeckte er zwei Frauen in seinem Zimmer. Alles sah lustig und hell aus, der Sonnenschein fiel durch das epheuumrankte Fenster und tanzte fröhlich auf dem bunten, großblumigen Kattun, mit dem alles bezogen war. Die Frauen traten an sein Bett und er erkannte nun eine derselben als Mrs. Mellon, die Haushälterin; die andre dagegen war ihm fremd, hatte aber ein so gutmütiges, wohlwollendes Gesicht, als man sich's nur wünschen konnte.
"Guten Morgen, Mylord," sagte Mrs. Mellon. "Gut geschlafen?"
Seine Herrlichkeit rieb sich die Augen und lachte.
"Guten Morgen," sagte er, "ich weiß gar nicht, wo ich bin."
"Sie wurden gestern abend schlafend hier heraufgetragen in Eurer Herrlichkeit Schlafzimmer, und hier ist Dawson, die Sie zu bedienen hat," erläuterte Mrs. Mellon.
Fauntleroy saß im Bette auf und bot Dawson die Hand, gerade wie er sie auch dem Grafen geboten hatte.
"Guten Morgen," sagte er, "ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie für mich sorgen wollen. Miß Dawson oder Mrs. Dawson bitte?"
"Ganz einfach Dawson, Mylord!" erwiderte die Angeredete, freudestrahlend und knicksend. "Weder Miß noch Mrs., Gott segne Eure Herrlichkeit! Wollen Sie jetzt aufstehen und sich ankleiden lassen und dann im Kinderzimmer frühstücken?"
"Anziehen kann ich mich schon seit ein paar Jahren allein. Danke," erwiderte Cedrik. "Herzlieb hat es mir gezeigt, Herzlieb ist meine Mama. Mary mußte ja bei uns ganz allein alle Arbeit thun und waschen, da hätte man ihr nicht auch noch die Mühe machen können. Auch mein Bad kann ich so ziemlich allein besorgen, wenn Sie dann nur so gut sein wollen und die Ecken 'xaminieren, wenn ich fertig bin."
Dawson und die Haushälterin wechselten Blicke.
"Dawson wird alles thun, was Sie wünschen," sagte Mrs. Mellon.
"Das will ich wahrhaftig und von Herzen gern," versicherte die behäbige Matrone. "Wenn Mylord sich lieber selbst ankleidet, soll er's nur thun, und ich werde dabei stehen und warten, ob ich nicht etwas helfen kann."
"Das ist nett von Ihnen, denn manchmal ist's ein bißchen schwierig mit den vielen Knöpfen, und dann kann ich Sie doch fragen."
Er fand, daß diese Dawson eine sehr gute Frau sei, und als sie mit dem Bade und dem Ankleiden zu Ende waren, hatte er schon viel Interessantes erfahren und die Freundschaft war geschlossen. Er wußte, daß ihr Mann Soldat gewesen und in einer richtigen Schlacht ums Leben gekommen war, daß ihr Sohn Matrose sei, und daß sie selbst ihr lebenlang für die verschiedensten Kinder gesorgt und jetzt eben aus einem sehr vornehmen Hause kam, wo sie ein wunderschönes kleines Mädchen, Namens Lady Gwyneth Vaughn, bedient hatte.
"Und die ist auf eine Art mit Mylord verwandt," schloß Dawson, "vielleicht werden Sie sie einmal sehen."
"Glauben Sie wirklich?" sagte Cedrik erfreut. "Das würde mich sehr freuen! ich kenne noch gar kein kleines Mädchen, aber ich habe sie immer gern angesehen."
Als er in das anstoßende Zimmer trat, das ebenfalls sehr groß und hoch war, und von Dawson hörte, daß das nächste, dritte Zimmer auch ihm gehöre, überkam ihn das Gefühl seines Kleinseins wieder so mächtig, daß er sich gegen Dawson darüber aussprach, während er an dem hübsch gedeckten Frühstückstische Platz nahm.
"Ich bin ein sehr, sehr kleiner Junge," sagte er ziemlich gedrückt, "dafür, daß ich in so einem großen Schlosse leben und so viele Zimmer haben soll – meinen Sie nicht auch?"
"Ach du liebe Zeit," tröstete Dawson, "das kommt Ihnen nur jetzt im Anfang alles fremd vor, das wird bald vorbei sein, dann gefällt's Ihnen herrlich, 's ist ja so schön hier!"
"Freilich ist es schön," stimmte Fauntleroy mit einem halben Seufzer bei, "aber es würde noch viel schöner sein, wenn mir Herzlieb nicht so fehlte. Ich habe jeden Morgen mit ihr gefrühstückt und ihr Zucker und Sahne in die Tasse gethan, und ihr den Toast gereicht. Das war natürlich viel angenehmer."
"Ach was, Mylord kann sie ja jeden Tag sehen, und da wird's denn kein Ende nehmen mit Erzählen. Du lieber Himmel! Warten Sie's nur ab, bis Sie überall gewesen sind, und sich alles angesehen haben, die Hunde und die Ställe ganz voll mit Pferden. Es ist eins darunter, das Ihnen gewiß gefallen wird –"
"Wirklich?" rief Fauntleroy. "Ich habe die Pferde sehr gern. Zu Hause, da hatt' ich Jim so gern; das war Mr. Hobbs' Pferd und ging am Spezereiwagen. O, Jim war ein schönes Pferd, wenn es nicht ausschlug."
"Nun, warten Sie's nur ab, was Sie hier in den Ställen zu sehen kriegen. Ach, und meiner Seel', Sie haben ja noch nicht einmal ins andre Zimmer geguckt."
"Was gibt's denn da?" fragte Cedrik neugierig.
"Frühstücken Sie nur erst, dann wollen wir schon sehen."
Nach dieser geheimnisvollen Andeutung ging es natürlich sehr rasch mit dem Frühstück, und mit einem erleichterten: "So, jetzt bin ich fertig," glitt Seine Herrlichkeit vom Stuhle herab.
Dawson nickte und wies nach der Thür, wobei sie äußerst geheimnisvoll und vielsagend drein schaute, so daß seine Spannung sich gewaltig steigerte. Nachdem sie die Thür geöffnet hatte, blieb er auf der Schwelle stehen, sprachlos, die Hände in den Taschen, ganz rot vor Aufregung; was er sah, war auch ganz dazu angethan, ein Kinderherz zu überwältigen.
Das Zimmer war ebenfalls groß, wie hier alles zu sein schien, und es kam ihm noch weit schöner vor, als all die übrigen, nur ganz anders. Die Möbel waren nicht so altertümlich und schwerfällig wie die unten, die Stoffbehänge an Fenstern und Thüren waren heller und leichter, ringsum waren Bücherbretter voll besetzt, und auf den Tischen stand eine ganze Menge Spielsachen, wunderbare, kunstvolle Dinge, wie er sie an den großen Schaufenstern in New York so manches Mal sehnsüchtig angestaunt hatte.
"Das sieht aus wie eines Jungen Zimmer," sagte er endlich, tief aufatmend. "Wem gehört das alles?"
"Gehen Sie doch hinein und sehen sich's an," sagte Dawson. "Das ist alles für Sie!"
"Für mich!" rief er. "Mir gehört das? Warum? Wer hat mir das geschenkt?" Und mit einem Jubelschrei sprang er mitten in das Zimmer. "Das kommt vom Großpapa," sagte er mit funkelnden Augen. "Ich weiß es gewiß, das kommt vom Großpapa!"
"Gewiß," bestätigte Dawson, "und wenn Sie ein artiger junger Herr sein und nicht bei jeder Kleinigkeit ärgerlich werden wollen und den ganzen Tag vergnügt und lustig sein, so gibt er Ihnen, wonach Ihr Herz begehrt."
Das war ein aufregender Vormittag. Was gab es da alles zu besehen und zu untersuchen, jedes einzelne Ding war so interessant, daß man kaum davon loskommen konnte. Und dann war es doch gar zu merkwürdig, zu denken, daß das alles für ihn herbeigeschafft worden war, daß, noch ehe er New York verlassen, alle diese Herrlichkeit für ihn vorbereitet worden war.
"Haben Sie je von so einem guten Großvater gehört?" fragte er Dawson mit Begeisterung.
Dawson war erst seit wenigen Tagen im Hause, aber im Dienerschaftszimmer hatte sie schon mancherlei von den Eigenheiten des alten Herrn gehört.
"Von all den sündhaften, jähzornigen, wilden alten Kerls, deren bunten Rock zu tragen ich das Pech gehabt, ist der hier der ärgste Wüterich," hatte sich Thomas, der lange Bediente, geäußert.
Und dieser selbe Thomas hatte auch mit angehört, in welchen Worten der Graf Mr. Havisham gegenüber diese zarte Fürsorge für seinen Enkel begründet hatte, und hatte nicht verfehlt, dieselben in den unteren Regionen zu wiederholen.
"Man läßt ihm den Willen und füllt seine Zimmer mit Spielzeug," hatte Mylord gesagt. "Gebt ihm, was ihm Spaß macht, dann wird die Mutter schnell vergessen sein – das ist Kinderart."
Bei diesen liebenswürdigen Absichten war die dem Grafen vorbehaltene Entdeckung, daß es dieses Kindes Art nun eben nicht sei, keine erfreuliche für denselben. Er hatte eine schlechte Nacht gehabt und war den Vormittag über in seinem Zimmer geblieben. Nach dem zweiten Frühstück ließ er aber den Enkel doch rufen.
Sofort vernahm er kurze, hastige Schritte in der Halle, und mit heißen Wangen und blitzenden Augen trat Cedrik bei ihm ein.
"Ich habe immer gewartet, ob du nicht nach mir schicken würdest," sagte er, "und ich danke dir viel tausend-, tausendmal für all die schönen Sachen! Den ganzen Vormittag hab' ich damit gespielt!"
"So, so!" versetzte der Graf. "Sie gefallen dir also – hm?"
"O, und wie! Das kann ich dir gar nicht sagen!" beteuerte Lord Fauntleroy freudestrahlend. "Eins ist dabei, das ist gerade wie base-ball, nur daß man's auf einem Brett spielt mit schwarz und weißen Zapfen. Ich hab's Dawson zeigen wollen, aber sie hat's nicht recht verstanden – natürlich, weil sie eine Dame ist, hat sie ja nie Ball gespielt, und ich hab's wahrscheinlich nicht gut erklärt. Aber du kennst's doch?"
"Ich fürchte, nein," versetzte der Graf. "Das ist wohl ein amerikanisches Spiel, nicht? Etwa wie Cricket?"
"Cricket habe ich nie gesehen; aber Mr. Hobbs hat mich einigemal mitgenommen, um base-ball spielen zu sehen. Ein ganz famoses Spiel! O, man wird so aufgeregt! Soll ich das Spiel holen und dir zeigen? Vielleicht gefällt dir's so gut, daß du deinen Fuß ganz vergißt – thut er dir heute sehr weh?"
"Mehr, als mir lieb ist, wenigstens."
"Dann kannst du's vielleicht nicht vergessen," sagte Ceddie mit besorgter Miene. "Vielleicht wär dir's dann lästig, das Spiel zu lernen."
"Geh nur immerhin und hole es," entschied der Graf.
Es lag wieder ein ironisches Lächeln um seinen Mund, als Cedrik mit der Schachtel im Arm und dem größten Feuereifer in seinem frischen Gesichte zurückkam.
"Darf ich den kleinen Tisch zu dir hinschieben?" fragte er.
"Klingle nur – Thomas besorgt das."
"O, das kann ich ganz gut allein! Er ist gar nicht schwer!"
"Auch gut," bemerkte der Großvater, den es sichtlich belustigte, wie eifrig sein kleiner Kamerad die Vorbereitungen zum Spiele betrieb. Der Tisch wurde glücklich herbeigeschleppt und dann begann eine gründliche, ausführliche Auseinandersetzung und eine sehr dramatische Schilderung des großen base-ball-Wettspieles, das er mit Mr. Hobbs gesehen hatte. Schließlich konnte das Spiel allen Ernstes beginnen, und der alte Herr fand es zu seinem Erstaunen keineswegs langweilig. Sein Partner war mit Leib und Seele dabei, sein fröhliches Lachen, wenn er einen "famosen Wurf" gethan hatte, seine unparteiische Freude, wenn er selbst, oder wenn der Gegner Glück hatte, belebten die Sache ungemein. Wer dem Grafen vor einigen Tagen gesagt hätte, daß er Gicht und üble Launen vergessen würde überm Spiele mit schwarz und weißen Holzzäpfchen und einem blondlockigen, kleinen Jungen als Partner! Und nun war er so vertieft darin, daß er's beinahe überhörte, als Thomas einen Besuch meldete.
Der in Rede stehende Besucher war ein älterer Herr in schwarzer Kleidung und kein Geringerer, als der Geistliche des Ortes; derselbe war so verblüfft über das Bild, das sich ihm bei seinem Eintritt darbot, daß er, einen Schritt zurückprallend, fast mit Thomas zusammengestoßen wäre.
Es gab keinen Teil seiner Amtspflicht, den Mr. Mordaunt so schwierig und so peinlich zu erledigen fand, als den Verkehr mit seinem Gutsherrn, der die Besuche bei ihm stets zu überaus unerquicklichen Stunden gestaltete. Gegen Kirchen und Wohlthätigkeitsanstalten hatte derselbe nun einmal ein entschiedenes Vorurteil; war die Gicht sehr schlimm, so erklärte er ohne weiteres, daß er nicht durch Erzählungen über das Bettlerpack mißhandelt werden wolle. Waren die Schmerzen etwas geringer und die Stimmung menschlicher, so gab er zuletzt einiges Geld her, aber nie, ohne möglichst viel Sarkasmen und verletzende Bemerkungen über den Pfarrer ausgegossen zu haben, der es äußerst schwierig fand, seine christlichen Gesinnungen auch auf den edlen Lord in Anwendung zu bringen. Aus freiem Willen etwas Gutes thun oder einen freundlichen Gedanken für andre hegen, waren Dinge, welche Mr. Mordaunt in all den Jahren an seinem Gebieter nicht kennen gelernt hatte.
Heute war er gekommen, um über einen besonders dringenden Fall zu reden, und er hatte sich noch mehr als sonst mit Furcht und Zittern auf den Weg gemacht. Einmal wußte er, daß der Graf seit mehreren Tagen an einem besonders heftigen Gichtanfall litt und daß das Barometer auf Sturm stand, so daß Gerüchte darüber sogar bis ins Dorf gedrungen waren – Mrs. Dibble, die einen kleinen Laden mit Nähnadeln, Strickgarn, Pfefferminzzeltchen und Klatsch hielt, besaß als Hauptbezugsquelle für letzteren gesuchten Artikel eine Schwester, die als Hausmädchen im Schlosse diente, mit Mr. Thomas auf gutem Fuße stand und einfach "alles" wußte.
"Wie's der Lord jetzt treibt," hatte Mrs. Dibble erzählt, "das ist nicht mehr zu sagen, und was er für Ausdrücke braucht – Mr. Thomas hat selbst zu meiner Jane gesagt, das halte kein Christenmensch mehr aus, und wenn der Dienst sonst nicht gut wäre, und die Gesellschaft im Unterstocke so nett, hätt' er ihm neulich, nachdem Mylord ihm die heiße Platte mit dem Toast an den Kopf geworfen, rundweg aufgesagt!"
Dies alles war auch ins Pfarrhaus gedrungen, denn der Lord war nun einmal das "schwarze Schaf" in der Gemeinde, von dem man nicht genug Schauergeschichten erzählen und hören konnte.
Und noch ein andres ließ den wackeren Geistlichen gerade heute einen üblen Empfang im Schlosse fürchten. Jedermann wußte, wie wütend der Graf über seines Sohnes amerikanische Heirat gewesen war, jedermann wußte, wie hart er ihn behandelt hatte, und daß der frische, hübsche junge Mann – der einzige seiner Familie, der allgemein beliebt gewesen – arm und unversöhnt im fremden Lande gestorben war. Jedermann wußte ferner, daß er ohne jede Neigung oder Freude der Ankunft jenes Enkels entgegensah und daß er sich in den Kopf gesetzt hatte, einen ungeschlachten, plumpen Lümmel von Amerikaner in ihm zu finden, der seinem Namen Schande machen mußte. Das alles wußte man, obgleich der harte, stolze Mann sein Inneres vor jedem Menschen zu verbergen glaubte! Und während er sich völlig gesichert vor jedem Einblick in sein Leben hielt, hieß es am Dienerschaftstische: "Wenn der Alte an des Kapitäns Jungen denkt, treibt er's noch toller als sonst, weil er eine Hundeangst vor dem Bengel hat. Geschieht ihm aber ganz recht, er ist selber schuld daran, und was kann er von einem Kinde erwarten, das da drüben in dem Amerika unter geringen Leuten aufgezogen ist?"
Dies alles überlegte sich Seine Ehrwürden, als er, im Schatten der herrlichen alten Bäume dahinschritt, und er sagte sich, daß dieser besagte Enkel gestern angekommen und zehn gegen eins der Graf infolge des ersten Eindruckes in einer Berserkerwut sei, und doch mußte es sein!
Dann hatte Thomas ihm die Thür geöffnet, und sein erster Blick war auf das merkwürdigste Bild gefallen: der Graf in seinem Lehnstuhle, den gichtischen Fuß weich unterstützt, und dicht neben ihm, an das gesunde Knie gelehnt, ein kleiner Junge mit heißen Wangen und vor Uebermut blitzenden Augen.
"Zwei heraus!" jauchzte die helle Kinderstimme. "Diesmal hast du kein Glück gehabt, gelt?"
Da wurden beide Spieler plötzlich des Eintretenden ansichtig.
Der Graf blickte auf, zog die Augenbrauen zusammen, wie es seine Art war, und zu Mr. Mordaunts ungemessenem Erstaunen verdüsterte sich seine Miene keineswegs, als er ihn erkannte, ja er sah sogar aus, als ob er ganz vergessen hätte, daß es zu seinen Lebensgewohnheiten gehörte, Furcht und Schrecken um sich zu verbreiten.
"Ach!" sagte er mit seiner rauhen Stimme, reichte ihm aber mit verhältnismäßiger Artigkeit die Hand. "Guten Morgen, Mordaunt. Sie sehen, ich bin auf eine ganz neue Art beschäftigt."
Die andre Hand legte er auf Cedriks Schulter – möglich daß sich insgeheim etwas wie Stolz in seinem Herzen regte, solch einen Erben vorstellen zu können.
"Dies ist der neue Lord Fauntleroy," fuhr er fort, "Fauntleroy, dies ist Mordaunt, unser Geistlicher."
Fauntleroy blickte zu dem steifen, schwarz gekleideten Herrn auf und reichte ihm die kleine Hand.
"Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir," sagte er, eingedenk der Redensart, mit welcher Mr. Hobbs hier und da einen neuen, hochgeschätzten Kunden beehrte. Cedrik war überzeugt, daß man einem Geistlichen gegenüber in der Höflichkeit ein übriges thun müsse.
Mr. Mordaunt hielt das Händchen einen Augenblick in der seinen und blickte, unwillkürlich lächelnd, in das blühende Kindergesicht. Er hatte den kleinen Gesellen bereits lieb – wie es ja den meisten Menschen erging. Nicht die Schönheit und Anmut des Knaben sprach zu seinem Herzen, sondern die Einfachheit und Kindlichkeit, die all seine Worte, so wunderlich und komisch dieselben oft waren, liebenswürdig und herzgewinnend machten.
"Und ich freue mich von ganzem Herzen der Ihrigen, Lord Fauntleroy," erwiderte der Pastor die Anrede. "Sie haben eine lange Reise machen müssen und wir sind alle erfreut, daß Sie dieselbe so glücklich überstanden haben."
"Die Reise war sehr lang," versetzte Fauntleroy, "aber Herzlieb, meine Mama, ist mit mir gekommen, und da bin ich natürlich gar nicht einsam gewesen. Man ist ja nie einsam, wenn man seine Mutter bei sich hat, und das Schiff war wunderschön."
"Setzen Sie sich, Mordaunt," sagte der Graf.
"Eure Herrlichkeit ist sehr zu beglückwünschen," sprach der Geistliche mit Wärme, indem er sich einen Stuhl zurechtrückte: der Graf schien jedoch nicht geneigt, seine Gefühle über den Punkt laut werden zu lassen.
"Er sieht seinem Vater ähnlich," bemerkte er ziemlich kurz angebunden. "Hoffentlich führt er sich einmal verständiger auf. Nun, und was gibt's heute, Mordaunt?" setzte er hinzu. "Wer ist wieder einmal im Elend?"
Das klang lange nicht so schlimm, als Mr. Mordaunt erwartet hatte, und doch begann er erst nach einigem Zögern sein Anliegen vorzutragen.
"Es handelt sich um Higgins – Higgins von der äußeren Farm. Der Mann hat Unglück gehabt. Ich will nicht gerade behaupten, daß er ein sehr guter Wirtschafter ist, allein die Verhältnisse sind derart, daß er zurückkommen mußte. Er selbst war letzten Herbst krank, dann hatten die Kinder das Scharlachfieber und nun liegt die Frau. Es handelt sich um den Pachtzins und Newick droht, ihm sofort zu kündigen, wenn er nicht zahlt. Die Sache steht natürlich sehr schlimm für ihn, und er kam gestern zu mir mit der Bitte, mich bei Ihnen für die Gewährung einer längern Frist zu verwenden."
"Das alte Lied," sagte der Graf sichtlich verstimmt.
Fauntleroy stand zwischen dem Großvater und dem Besucher und war ganz Ohr. Er "'tressierte" sich natürlich sofort für Higgins und die Kinder und hätte gar zu gern gewußt, wie viele es ihrer seien, und ob sie sehr krank gewesen.
"Higgins ist ein wohlgesinnter Mann," bemerkte der Geistliche, bemüht, sein Gesuch zu unterstützen.
"Und ein schlechter Pächter, der immer im Rückstande ist," erwiderte Seine Herrlichkeit. "Ich weiß das von Newick."
"Augenblicklich ist die Not groß. Der Mann hängt sehr an seiner Familie, und wenn ihm die Pacht gekündigt wird, so können sie alle miteinander verhungern. Zudem verordnet der Arzt Wein und kräftige Kost für die Kinder, und Higgins weiß nicht, woher das nehmen."
"So war's gerade bei Michael," warf Lord Fauntleroy, näher tretend, ein.
Der Graf blickte überrascht auf. "Dich hatte ich ganz vergessen," sagte er. "Dachte gar nicht mehr daran, daß wir einen Philanthropen im Zimmer haben. Nun, wer war denn Michael?" Und das belustigte Lächeln flog wieder über des alten Herrn Gesicht.
"Bridgets Mann, der das Fieber gehabt hat," erklärte Fauntleroy eifrig. "Du weißt ja doch, Großvater! Der hat auch die Miete nicht zahlen und keinen Wein und solche Sachen kaufen können. Dann hast du mir das Geld für ihn gegeben, damit ich ihm helfen konnte."
Der Graf warf Mr. Mordaunt einen raschen Blick zu.
"Ich weiß nicht, was für eine Sorte von Gutsherren der Junge abgeben wird," bemerkte er. "Ich hatte Havisham gesagt, der Knirps solle haben, was ihm Spaß macht – und was ihm Spaß gemacht, war offenbar, Bettelleuten Geld zu geben."
"O nein, Bettelleute waren es gar nicht!" rief Cedrik. "Michael war – Michael ist ein sehr ausgezeichneter Maurer. Sie haben alle gearbeitet."
"Aha," beruhigte ihn der Graf. "Bettelleute waren es also nicht, sondern sehr ausgezeichnete Maurer, Stiefelputzer und Apfelfrauen." Plötzlich schien ihm ein Einfall zu kommen und er sah den Jungen ein paar Sekunden scharf an. "Komm 'mal her," sagte er dann.
Fauntleroy trat so nahe zu ihm, als es irgend anging, ohne an das kranke Bein zu stoßen.
"Was würdest du in diesem Falle thun?" fragte der alte Edelmann.
Eine seltsame Empfindung bemächtigte sich Mr. Mordaunts bei dieser unvorhergesehenen Frage. Er war seit Jahren in der Gemeinde angestellt, kannte die Armen und Reichen, die Ehrlichen und die Schlimmen, und wußte, welch ungeheure Macht zum Bösen oder Guten dereinst diesem kleinen Jungen gegeben sein werde, der mit weit offnen Augen, die Hände in den Taschen vor ihm stand, und dabei durchzuckte ihn der Gedanke, daß, wenn der herrische, eigensinnige alte Mann die Laune haben sollte, diese Macht schon jetzt in diese kleine Hand zu legen und diese Kindesnatur keine großmütige und wahre wäre, der Schaden für den Knaben selbst, wie für die von ihm Abhängigen, ein unabsehbarer sein würde.
"Was würdest du in diesem Falle thun?" fragte der Graf.
Fauntleroy legte die Hand zutraulich auf des Großvaters Knie.
"Wenn ich sehr reich wäre, und nicht nur ein kleiner Junge, dann würde ich ihn ruhig in seinem Hause wohnen lassen und würde ihm alles geben, was die Kinder brauchen, aber ich, ich bin ja nur ein Kind!" Aufleuchtend setzte er gleich darauf hinzu: "Du kannst das alles thun, nicht wahr?"
"Hm, da hätten wir also deine Meinung," sagte der Graf.
"Nicht wahr, du kannst allen Leuten geben, was du willst?" fragte Fauntleroy noch einmal. "Was ist denn Newick?"
"Mein Intendant, für den meine Pächter eben keine sonderliche Zuneigung hegen."
"Willst du ihm jetzt gleich schreiben?" drängte Cedrik. "Soll ich dir Feder und Tinte bringen? Ich kann ja das Spiel hier wegnehmen." Die Möglichkeit, daß man diesen Herrn Newick seine Drohung ausführen lassen könnte, kam ihm offenbar gar nicht in den Sinn.
Der Graf schwieg eine Weile, den Knaben immer fest ins Auge fassend.