Mein Freund Kaspar
Mein Freund Kaspar
Draußen lag der dichte Schnee auf den Bergen und den dunkeln Dächern der kleinen rheinischen Stadt. In Scharen kamen die Vögel des Waldes, um in der Nähe menschlicher Wohnungen Schutz vor dem grausamen Hungertode zu suchen. In dem großen, von Mauern umgebenen Hofraum unseres Hauses hatte ich mir ein Futterplätzchen eingerichtet, und Spatzen, Rotkehlchen, Meisen warteten in den Frühstunden des Tages schon lange auf mich, um dann mein Erscheinen mit vielstimmigem Freudengezwitscher zu begrüßen, und täglich erhielt ich mehr Zuspruch; sogar die großen Krähen scheuten sich nicht, schwerfällig in den Hof zu fliegen, um auch ihr Teil zu erhalten.
Es war ein kalter Januarmorgen, und lebhaft ging es auf meinem Futterplatze zu, wo wohl hundert eifrig pickende Vögel saßen, unbekümmert um meine, ihnen jetzt wohlbekannte Gegenwart; und ich sah ihnen lächelnd zu, als plötzlich alle gefiederten Gäste mit großem Geschrei aufstoben; eine fremde Erscheinung war in den Hof getreten. Vorwurfsvoll lärmend saßen die dick aufgepusteten Sperlinge in den entlaubten Zweigen der Obstbäume; sie, die unverschämten Bettler, hatten kein Mitgefühl für den Mann, der bleich, mit ernstem Gesicht vor mir stand; und er war doch ein Kamerad von ihnen; ich sah es ihm an, obgleich er kein Wort sprach; auch er verlangte Barmherzigkeit, auch ihn hungerte und fror. Es gibt Häuser, christliche Häuser, wo die sogenannten »armen Reisenden« immer »aus Grundsatz« von der Tür gewiesen werden; dies Haus, in dem ich mich zur Zeit befand, hatte noch niemals einen Bittenden fortgewiesen, und so kam es denn auch, daß der Eintretende, ohne daß man seine Bitte abwartete, nach wenig Augenblicken vor einer Tasse Kaffee saß und ein großes Stück Brot in der Hand hielt. »Das wird ihm gut tun!« dachte ich zufrieden, während ich aus der Küche, wohin ich den Handwerksburschen – denn ein solcher schien er mir – gewiesen, wieder in den Hof trat, um meinen Vögeln zuzuschauen, welche sich bemühten, reinen Tisch zu machen, was ihnen auch sehr gut gelang. Als ich aber von draußen durch das Küchenfenster blickte, sah ich zu meiner Verwunderung, daß der fremde Gast weder aß noch trank, sondern starr vor sich niedersah. Er hatte ein Gesicht, das man unwillkürlich noch einmal ansehen mußte; ein stilles, nachdenkliches Gesicht mit guten Augen darin, das keinem landstreichenden Vagabonden, sondern einem braven Handwerksgesellen gehören mußte. Auch sein Anzug war nicht so dürftig, wie mir anfänglich geschienen, und ein schweres Felleisen lag neben ihm. Da überkam mich die Lust, mit ihm zu sprechen, und ich trat bald zu ihm ein.
»Heda, Freund, seid Ihr nicht hungrig?« fragte ich.
Er sah mich etwas betroffen an. »Das wohl, Herr; aber es gibt Gedanken, die einem den Appetit verderben!« erwiderte er langsam, und aus seiner Sprache hörte ich sogleich den Norddeutschen heraus.
»Ihr seid ja ein Schleswig-Holsteiner!« sagte ich.
»Ja, Herr!« versetzte der Fremde aufstehend, während er mich glücklich ansah.
»Ist es Euch denn nicht besonders ergangen?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf und sah wieder starr vor sich hin.
»Arbeit habe ich wohl gehabt, aber kein Glück dabei!«
Er war ein einsilbiger Geselle; trotzdem ich ihm sagte, wir seien Landsleute, und obgleich ich plattdeutsch mit ihm sprach, gab er mir nur notdürftig Antwort auf meine vielen Fragen. Er sei ein Tischler und schon drei Jahre in der Fremde; mehr erfuhr ich nicht, und als ich ihn nun fragte, ob er einige Möbelreparaturen hier im Hause vornehmen wolle, von denen ich wußte, daß sie der Frau des Hauses sehr erwünscht sein würden, schien er zuerst gar nicht einmal zu wissen, ob er dies Anerbieten annehmen wolle oder nicht. Erst nachdem er seine Werkzeuge ausgepackt hatte und eifrig hämmernd und leimend in einem Kämmerchen neben der Küche saß, schien er freundlicher zu werden und erzählte den Kindern, daß er Kaspar heiße. Diese hatten nämlich kaum vernommen, daß ein Tischler im Hause sei, als sie auch schon mit invaliden Pferden, Wiegen und Wägelchen angezogen und den neuen Ankömmling fast belagerten. Aber freundlich und geduldig suchte dieser allen zu helfen, und noch keinen Tag war er im Hause, als sämtliche Kinder erklärten, er solle immer dableiben. Bald hatten auch wir andern heraus, daß er ein sehr geschickter Arbeiter sei, und so fand ich für eine Woche Beschäftigung für den fremden Handwerksgesellen. War er dankbar für die freundliche Aufnahme? Man konnte auf seinem ruhigen Gesichte wenig lesen, und so ließ ich ihn einige Tage seines Weges gehen, ohne mich viel um ihn zu kümmern. Am Sonntagmorgen – er mochte schon seit Dienstag im Hause sein und hatte wacker geschafft – begegnete er mir im Garten. Wie gewöhnlich trug er den Kopf leicht gesenkt, und seine Blicke ruhten auf dem mit Schnee bedeckten Boden. »Nun, Kaspar,« redete ich ihn an, »Ihr seht so aus, als wenn Ihr an die Heimat dächtet!«
Er schlug die Augen auf und nickte. »Das könnte wohl zutreffen!« meinte er mit einem leichten Seufzer. »Weshalb geht Ihr denn nicht wieder zurück?« Er schüttelte den Kopf. Langsam schritt er neben mir, der ich den Gartenweg auf- und niederging, und ich sah, daß sein Gesicht einen finstern Ausdruck angenommen hatte.
»Wir konnten uns nicht vertragen!« sagte er jetzt zögernd und trotzig.
»Mit wem konntet Ihr Euch nicht vertragen?«
»Nun, mit dem Theodor, Herr. Er ist zwar mein einziger Bruder, Vater und Mutter sind tot; aber er hat's danach getrieben, daß mich nicht zur Heimat verlangt.«
»Hat er sich nicht freundlich gegen Euch benommen?«
»Freundlich?« Kaspar wiederholte das Wort kopfschüttelnd. »Schon als Jungens konnten wir nicht miteinander spielen; er war zu klug und ich zu dickköpfig. Nachher kam er auf die lateinische Schule, weil er sein Freiwilligenexamen machen sollte, und ich blieb in der Dorfschule. Da wurde er stolz und sah mich gar nicht mehr an, wenn er in den Ferien nach Hause kam; nachdem ich aber konfirmiert und zum Tischler in die Lehre getan ward, wurde es noch schlimmer, und wir haben uns zuweilen gar harte Worte gegeben.«
»Wie kam es denn weiter?« fragte ich.
»Es ging immer so weiter, Herr! Als vor vier Jahren der Vater starb, da mußte Theodor den Bauernhof haben. Er war ja der Älteste und der Feinste! Für ihn war auch so viel Geld ausgegeben worden, daß für mich nichts übrigblieb, als in die Fremde zu wandern. In der Fremde bin ich nun und will jetzt auch hierbleiben. Was soll ich zu Hause? Mein Bruder nannte mich einen Hungerleider, als ich vom Erbteil sprach, und dann ging er hin und heiratete die Kathrin, dir mir immer versprochen hatte –« er stockte und preßte die Lippen fest aufeinander.
»Armer Kaspar,« sagte ich teilnehmend. »Ihr habt Schweres erfahren, und mir will scheinen, als wenn die Fremde Euch auch noch kein freundlich Gesicht macht –«
»O, das ist nicht so schlimm,« unterbrach er mich lebhaft, »Arbeit ist hier schon zu finden, und wäre ich nur katholisch, dann könnte mir's sehr gut gehen; aber es gibt manche Meister, die einen evangelischen Gesellen nicht freundlich ansehen, besonders wenn die Frau Meisterin eifrig zur Beichte geht.«
»Dann sind die Pastoren auch oft nicht freundlich gegen Euch gewesen, nicht wahr?«
»Das war mit Unterschied!« entgegnete Kaspar, dem es entschieden wohltat, sich einmal auszusprechen. »Ein Pastor ist grob gegen mich gewesen. Das war hinten in der Eifel, in einem Dorf, wo ich gute Arbeit fand, und wo auch der Pastor, ein kleiner, dicker Mann, mich in die Kirche mitnahm, weil ich am Beichtstuhl etwas ändern sollte. Wie ich aber nun kein Weihwasser nahm und vor dem Altar meine Knie nicht beugte, fragte er mich, wo ich her sei, und als er erfahren, daß ich ein Lutheraner, da brauchte er böse Worte, schlug drei Kreuze und schickte mich weg. Denselben Tag noch kam er zum Meister, und ich mußte mein Bündel schnüren. Es war mir leid um die Arbeit, sonst nicht. Und dann bin ich in Ortschaften gekommen, wo die geistlichen Herren freundlich mit mir redeten, mir Heiligenbilder schenkten und mich einluden, in die Messe zu gehen. Aber die lateinischen Gesänge konnte ich nicht verstehen, und wenn ich das sagte, ist mir oft sehr bald vom Meister gekündigt worden.«
»Um Gottes willen, Kaspar!« rief ich eifrig; »laßt Euch nicht von den Priestern verführen!«
Er aber zuckte gleichmütig die Achseln. »Loben Sie mich nicht zu früh, Herr! Ich habe mir die Sache überlegt und finde eigentlich, daß die Kapläne recht haben, wenn sie sagen, hier im Rheinland sei die Luft katholisch, und der sie einatme, müsse auch katholisch sein, sonst bleibe er nicht gesund. Ich will nun einmal hierbleiben, die Leute gefallen mir, und die Arbeit ist gut. Sehen Sie, Herr, die Katholiken sind doch keine Heiden! Sie beten mehr als wir Evangelischen, sie glauben an Gott und an Christus; auch von dem Heiligen Geist sprechen sie manchmal, und die Mutter Gottes war doch wirklich eine sehr heilige Jungfrau! Also weshalb sollte ich nicht katholisch werden? Das kann doch keine Sünde sein.«
Ich war stehengeblieben und sah den Frager wortlos an; gleichmütig fuhr er fort: »Als ich neulich morgens zu Ihnen kam, hatte ich Geld in der Tasche, um mir ein reichliches Frühstück zu kaufen, aber ich dachte bei mir: Wenn die Leute in dem großen, weißen Hause dir Kaffee und Brot geben, dann bleibst du hier in der Stadt und gehst in die Messe; jagen sie dich aber fort, so ziehst du weiter und überlegst dir die Sache noch einmal! Nun, Herr, Sie wissen selbst, wie gut es mir ergangen ist.«
Jetzt fand ich wieder Worte. »Kaspar!« rief ich dringend, »Ihr wolltet Euren reinen evangelischen Glauben, in dem Ihr getauft und konfirmiert seid, verlassen? Den Glauben, in dem Eure Eltern gestorben sind?«
Er wich unsicher meinem Blicke aus. »Der Kaplan, mit dem ich zuletzt sprach, sagte mir, daß Luther erst katholischer Mönch gewesen, und daß er zuerst hätte gern katholisch bleiben wollen, aber der Papst –«
In diesem Augenblick läutete die Glocke der kleinen evangelischen Kirche, und ich legte, ruhiger geworden, meine Hand auf Kaspars Schulter. »Wir wollen nachher weitersprechen; kommt jetzt mit mir in unsere Kirche!«
Aber Kaspar trat einen Schritt zurück. »Nichts für ungut, aber das Hochamt beginnt auch gleich. Ich muß mein Gelübde halten und in die katholische Kirche gehen!«
Noch einige Bitten und Ermahnungen verschwendete ich an meinen Landsmann, aber vergebens. Ich merkte deutlich, daß er es sich fest vorgenommen hatte, katholisch zu werden, und daß meine Worte in den Wind gesprochen waren. So ließ ich endlich von ihm ab und ging bekümmerten Herzens in das abgelegene Gäßchen, wo die vom Gustav-Adolf-Verein erbaute kleine Kirche stand.
Scharen von geputzten Kirchgängern begegneten mir: sie verschwanden alle unter dem hohen Portal des katholischen Gotteshauses, während nur wenige Menschen mit mir denselben Weg gingen. Unser schmuckloses Kirchlein war mit wenigen Andächtigen besetzt, und eine künstlich aufgebaute Predigt unseres Geistlichen, in welcher mehr von den alten griechischen Philosophen, als von unserem Herrn Christus die Rede war, ließ mich seufzen; wenn ich mich auch freuen mußte, daß Kaspar nicht mitgegangen war – was hätte er von Sokrates, von Aristoteles, von der platonischen Lehre verstanden? – Auf dem Heimwege wollte mich ein bitteres Gefühl überkommen, daß hier der kleinen, evangelischen Gemeinde kein lauteres Gotteswort gepredigt wurde, daß hier den armen, hungernden Seelen statt des Brotes ein Stein geboten ward. Aber ich beruhigte mich allmählich. »Der Herr wird wissen, wozu es gut ist!« sagte ich mir endlich. »Er will die Herzen so voll Sehnsucht und Verlangen nach ihm machen, daß sie sich zu ihm wenden, gerade wenn eine kalte, ungläubige Predigt ihre Seele verwundet hat.«
Als ich den Weg zu unserem Hause hinaufschritt, saß Kaspar vor dem Gartentor auf einem abgehauenen Baumstamm und sah so starr vor sich nieder, daß er mich nicht zu bemerken schien, und auch ich wollte eilig an ihm vorübergehen, weil er mich vorhin so erzürnt hatte. Aber war das der Frieden, den ich mir aus dem Gotteshause mitgebracht? Einen Augenblick zögerte ich, dann setzte ich mich neben meinen Landsmann. »Habt Ihr Euch erbaut?« fragte ich.
Er fuhr aus seinen Gedanken auf. »Sehr schön war's nicht, Herr; der Pastor erzählte viele Heiligengeschichten. Das waren wohl sehr gute Leute, aber man wird doch bald müde, immer von ihnen zu hören.«
Da versuchte ich denn wieder, ihm klarzumachen, wie er das Licht des lauteren Evangeliums entbehren würde, wenn er sich in das Dunkel des Katholizismus zurückbegäbe, wie leer das Herz bliebe bei dem prunkhaften, äußeren Gottesdienst, aber Kaspar verharrte in standhaftem Schweigen, und ich mußte ihn bald verlassen. Am andern Tage teilte er uns mit, daß der erste Tischlermeister ihn als Gesellen angenommen habe, und daß er zu diesem gehen werde, sobald er seine übernommene Arbeit fertiggestellt. Dieser Tischlermeister war ein alter, ehrsamer Junggeselle, und ich fühlte etwas wie Erleichterung, daß Kaspar nicht unter den Einfluß einer strengkatholischen Frau Meisterin gestellt wurde.
Uns allen tat es leid, den Gesellen ziehen zu lassen; sein ruhiges, fleißiges Wesen hatte ihm rasch Freunde erworben, und mir ging der Abschied besonders nahe; Kaspar schien wie Wachs in den geschickten Händen der katholischen Geistlichkeit, und ich sah den Augenblick kommen, wo sie triumphierend ihn in ihre Kirche aufnehmen würden. Zum Abschied sprach ich noch lange mit ihm und schenkte ihm eine Bibel, in die ich hineingeschrieben: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.« Als Kaspar die Augen auf diesen Spruch heftete, zuckten seine Lippen vor Bewegung. »Den Spruch hat meine Mutter mir gesagt, als ich von ihr ging!« murmelte er.
»Habt Ihr ihn befolgt?«
»Ich hatte zu viel anderes zu tun,« entschuldigte er sich, »und später ist mir niemals eine Bibel begegnet!«
»Wenn Ihr erst katholisch seid,« bemerkte ich traurig, »werdet Ihr auch keine Bibel mehr sehen. Ihr wißt doch, daß die Geistlichen hier das Bibellesen verbieten?«
Er sah mich mit großen Augen an und drückte das Buch plötzlich fest an sich. »Das lasse ich mir nicht verbieten!« rief er, »Mutter hat immer abends aus der Bibel vorgelesen, und ich sollte nicht mehr darin lesen dürfen?«
»Gerade jetzt sollt Ihr darin lesen,« versetzte ich, »Ihr kommt dann hoffentlich auf andere Gedanken!«
Aber da schüttelte der gute Kaspar wieder den Kopf: Hatte er nicht ein Gelübde getan? Soviel wußte er bereits von den Katholiken, daß man dieses niemals brechen dürfe, sonst erginge es einem bald schlecht. – So mußte ich meinen neuen Freund zum Tischlermeister ziehen lassen und reiste wenige Tage später selbst in die Heimat, manchen Gedanken zu Kaspar sendend.
Nach einem Jahre kehrte ich wieder, aber nur auf wenige Tage, so daß ich wenig Zeit für alle Freunde hatte. Nach Kaspar fragte ich sogleich und erfuhr, daß er noch in der Stadt bei demselben Meister sei. Seine Geschicklichkeit war schnell bekannt geworden, und er bekam so viele Aufträge, daß sein Meister ihm noch zwei Gesellen zur Aushilfe gegeben hatte. Soviel berichteten mir meine Gastfreunde, und Kaspar erzählte mir dasselbe, als ich ihn besuchte. Es war gerade Sonntag, und er saß in der stillen Werkstatt mit einem aufgeschlagenen Buche vor sich, das er bei meinem Eintritt hastig unter die Hobelbank schob. Aber ich hatte es doch erkannt, es war eine mir wohlbekannte Geschichte der Heiligen, deren krankhaft süßliche Sprache und grob kolorierte Bilder ein erbärmlicher Ersatz für unser heiliges Gotteswort sein mußten. Aber ich sagte kein Wort über das Buch, Kaspar aber brachte diesmal das Gespräch auf ernste Dinge.
»Ja, ja,« sagte er plötzlich, »da sitze ich hier nun im Rheinland. Arbeit gibt's genug, und der Verdienst ist reichlich; aber was nützt mir alles? Zu Hause denkt kein Mensch an mich, und niemand fragt nach mir. Vor sechs Monaten schrieb ich einmal an meinen Bruder Theodor, ich möchte so gern etwas aus der Heimat hören; aber er hat mir nicht geantwortet. Ich bin ganz vergessen!«
»Hat der liebe Gott Euch auch vergessen?« fragte ich.
Kaspar sah mich überrascht an.
»Wenn ich's recht bedenke – nein!«
»Und dafür, daß der liebe Gott es Euch wohlgehen läßt, dafür scheint Ihr ihm nicht sehr dankbar zu sein!«
Er stand unruhig auf: »Herr, Sie haben gut reden! Sie haben Verwandte und Freunde, mit denen Sie sprechen können, und die Sie liebhaben; ich bin allein, ganz allein, und das ist mir traurig, selbst wenn ich weiß, daß Gott mich nicht vergißt. Ich habe immer Heimweh und weiß eigentlich nicht wonach. Vielleicht muß ich doch noch einmal wieder in die Marsch, in der ich geboren bin, obgleich sie mir bitter verleidet ist. Sehen Sie,« – er holte das bunte Heiligenbuch hervor, – »da lese ich schöne Geschichten von den Männern, welche lebendig verbrannt und gerädert oder den Tieren vorgeworfen sind und Gott doch gelobt haben. Der Kaplan, welcher mir das Buch lieh, sagte, ich würde beim Lesen froh werden, weil die guten Werke der Märtyrer auch mir nützen könnten, aber mir gruselt bei den Geschichten!«
»Wo ist Eure Bibel?« fragte ich, – aber Kaspar beachtete meine Frage nicht.
»Der Kaplan sagt,« fuhr er fort, »daß die Leiden der Heiligen uns zugute kommen, denn sie stehen vor Gottes Thron und bitten für uns, aber doch will mich das alles nicht so freuen, wie es sollte.«
»Ihr seid wohl schon katholisch?« fragte ich kurz, aber Kaspar schüttelte den Kopf.
»Noch nicht, Herr; ich mache es den Herren Kaplänen nicht so leicht, wie sie sich das wohl zuerst gedacht haben. Sie besuchen mich fleißig, leihen mir Bücher und gehen mit mir spazieren, selbst der Herr Dechant redet mich freundlich an, wenn er mir begegnet. Bei uns zu Lande sind die Pastoren nicht so hinter den Leuten her!«
»Ihr kommt Euch wohl sehr wichtig vor,« bemerkte ich etwas spöttisch, »wenn diese Herren so artig gegen Euch sind? Da wird's Euch sicher nicht schwerfallen, Euren reinen Glauben abzuschwören!«
Kaspar seufzte. »Ich merke es schon. Sie sind mir böse, Herr; aber ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich bin heimatlos. Hier bieten sie mir eine Heimat! Ich bin allein und verlassen: sie sagen mir, daß ich niemals allein mehr sein soll, wenn ich zur allein seligmachenden Kirche zurückkehre. Dann habe ich es mir ja damals vorgenommen, katholisch zuwerden, und dann – ich möchte bald heiraten und kann auch eine Frau gut ernähren, aber mich traut kein Pastor, wenn ich nicht verspreche, daß meine Kinder katholisch werden sollen!«
»Ihr könnt ja ein evangelisches Mädchen heiraten!« rief ich, aber Kaspar schüttelte den Kopf.
»Unter denen ist keine, die mir paßt, und die wenigen, die hier sind, sind fast alle verlobt!«
Nach dieser langen Auseinandersetzung hatte er sich wieder gesetzt und sah mich so bittend und hilflos an, daß ich die unfreundlichen Worte, welche ich auf der Zunge hatte, zurückdrängte und nur einfach sagte: »Nun, Ihr müßt wissen, was Ihr tut, und Eure Handlungsweise später verantworten. Aber ich möchte Euch doch raten, anstatt der buntgemalten Heiligengeschichten die Geschichte unseres Herrn und Heilandes oft und gründlich zu lesen. Vielleicht erseht Ihr daraus, noch ehe es zu spät ist, daß wir einen besseren Fürsprecher vor Gottes Thron haben, als alle Heiligen der Erde. Christi Blut ist, das gerecht macht! Als er auf Golgatha sein Haupt im Tode neigte, da litt er so gut für Euch wie für mich und für die Millionen Menschen, welche vor uns lebten und nach uns leben werden!«
Nach kurzem Abschied ging ich, und Kaspar seufzte tief, als er mir die Hand reichte.
»Ich will's wieder mit der Bibel versuchen!« sagte er.
Dies war im Sommer gewesen; eine längere Reise hielt mich der Heimat fern, und der Dezemberschnee fiel schon in dichten Flocken, als ich endlich von Altona aus wieder nach Hause fuhr. Frostig in meine Reisedecke gewickelt, blickte ich aus den Fenstern des Eisenbahnkupees auf die weiße, kahle Landschaft, welche ich im Sommerkleide verlassen. Jetzt lag der Schnee über allem wie ein Totengewand, und während der Zug durch den dämmerigen Tag dahinfuhr, dachte ich an Sterben und Auferstehen. Aber ich sollte nicht lange allein bleiben: auf der ersten Station wurde mein Kupee geöffnet, und ein kräftiger, junger Mann stieg in Begleitung seiner Frau ein. Der Ankömmling war entschieden ein Landmann, seine Kleidung, sein gebräuntes, von einem hellen Barte umrahmtes Gesicht deuteten darauf hin. Auch kam es mir vor, als habe ich ihn schon einmal gesehen, doch, ich wußte nicht wo. Die Frau sah weder so gesund, noch so wohlgekleidet aus wie ihr Mann; ihr Gesicht trug einen verhärmten Ausdruck, welcher der Jugendlichkeit desselben großen Abbruch tat.
Als der Mann bemerkte, daß der Zug noch länger hielt, stieg er wieder aus, um sich noch ein Glas Bier geben zu lassen, unterdessen geräuschvoll mit einigen Landleuten, welche vor dem Bahnhofe standen, sich unterhaltend. Seine Frau rief öfters schüchtern: »Theodor, steig doch wieder ein!« Aber er kam nicht eher, bis der Schaffner ihn rief. Dann setzte er sich mir gegenüber, die andern riefen: »Adieu, Maaßen!« und der Zug fuhr mit uns davon. Ich faßte meinen Reisegefährten näher ins Auge. Maaßen, so hieß auch mein Freund Kaspar; sollte dies der Bruder Theodor sein? Dieser zündete sich eben eine Zigarre an, die er einer eleganten Tasche entnahm, und pfiff leise vor sich hin. Die Sorgen des Lebens schienen ihn nicht zu bedrücken; ich aber beschloß, ihn anzureden und fragte höflich, ob er der Herr Maaßen sei, welcher einen Bruder, Kaspar mit Namen, besitze.
Der Angeredete sah mich einen Augenblick erstaunt an, bejahte dann aber freundlich meine Frage.
»Wo befindet sich dieser augenblicklich?« fragte ich.
Er zuckte die Achseln. »Ich hörte lange nichts von ihm, lieber Herr. Er ist ein Tischler oder Zimmermann geworden und führt ein unstetes Leben, ist auch ein unsteter Bursch, mit dem es nicht leicht war, fertig zu werden!«
»Vor bald einem Jahr hat er uns einmal aus der Rheinprovinz geschrieben!« bemerkte Frau Maaßen leise. Ihr Mann nickte. »Ganz recht, er schrieb mir einmal, aber ich verlegte den Brief. Man hat so vieles zu bedenken, daß das Briefschreiben unterbleibt!«
»Ist Kaspar nicht Ihr einziger Bruder?« fragte ich.
Herr Maaßen sah mich verdutzt an. »Ja, das ist er; aber unsere Ansichten sind sehr verschieden. Ich bin Hofbesitzer, er ist Handwerker; ich bin gebildet, er ist ungebildet und –«
»Ich kenne Ihren Bruder ganz gut,« fiel ich ihm ins Wort; »er macht durchaus keinen ungebildeten Eindruck. Dazu ist er ein sehr geschickter Tischler und wird sicherlich seinen Weg machen!«
»Das habe ich auch immer gesagt!« rief die junge Frau, aber ihr Mann warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.
»Sie scheinen meinem Bruder ja recht die Stange zu halten, werter Herr, aber der Kaspar und ich, wir passen einmal nicht zusammen!«
»Verzeihen Sie eine Frage!« rief ich lebhaft. »Sie scheinen sehr bemittelt zu sein; wie kommt es, daß Ihr Bruder als Handwerksbursche fechten mußte?«
Herr Maaßen rückte etwas unruhig auf seinem Platze hin und her. »Das sind Familiengeschichten!« versetzte er unfreundlich. »Ich bin der älteste Sohn, und da ich das Gymnasium besucht und später mein Jahr bei der Kavallerie abgedient, so bin ich meinem Vater teuer geworden, und das Erbteil für uns beide wurde nur klein!«
Er rauchte eifrig weiter, während er sprach, und als ich ihm jetzt nichts antwortete, fuhr er etwas freundlicher fort: »Er hat mir auch einmal geschrieben, daß er Geld brauche; aber ich konnte ihm nichts schicken; die Zeiten sind schlecht, und die Landleute müssen sich elend durchschlagen! Also, Sie meinen, daß es dem Kaspar gut geht? Das sollte mich freuen!«
Es schien mir, als wenn Herr Maaßen ein wenig verlegen geworden sei, und als seine Frau mich freundlich fragte, wo ich ihren Schwager zuletzt gesehen, wandte ich mich ihr zu und berichtete von ihm, daß er ein sehr geschickter Arbeiter sei und viele Bestellungen habe.
»Verdient er wirklich viel Geld?« fragte Herr Maaßen. »Nun, da will ich ihm doch einmal schreiben, und zum Weihnachtsfeste kannst du ihm ein paar braune Kuchen schicken, Kathrin! Es tut mir wirklich leid, lieber Herr, daß er gar nichts nach Vaters Tode geerbt hat; aber mein Jahr bei der Kavallerie kostete zu viel!«
»Konnten Sie denn nicht bei der Infanterie dienen?« fragte ich.
»O, alle Hofbesitzersöhne aus unserer Gegend dienten zu Pferde; da konnte ich ihnen nicht nachstehen! Mein Vater wollte auch immer, ich sollte aus Tertia abgehen und drei Jahre dienen, aber dagegen tat ich Einsprache.«
»Sind Sie Reserveoffizier geworden?«
Er lachte gezwungen. »Herr, was denken Sie! Ich habe nicht einmal die Knöpfe bekommen!«
»Sind Sie viel besser behandelt worden als die andern Soldaten?«
»Das glaube ich auch nicht!« versetzte Maaßen verlegen. »Sie fragen aber scharf aus!«
»Verzeihen Sie,« sagte ich lächelnd. »Ich will auch nicht leugnen, daß ich denke, Kaspar hätte vielleicht noch ein kleines Erbteil bekommen, wenn Sie bei der Infanterie gedient hätten!«
»Das kann sein!« nickte er. »Mir tut auch manches leid, und wenn Sie an Kaspar schreiben, so sagen Sie nur, daß ich ein ganz guter Kerl wäre und mit ihm gern in Frieden leben wollte. Kathrin kann ihm ja auch etwas von der Schlachterei schicken!«
Jetzt hielt der Zug, und Herr Maaßen schien sehr erleichtert, daß er aussteigen konnte. Flüchtig mir ein Lebewohl zurufend, lief er in die Restauration, während seine blasse, kleine Frau noch bei mir sitzen blieb.
»Ich will dem Kaspar gleich schreiben!« sagte Frau Maaßen, »er darf es uns nicht so übelnehmen, wenn wir nicht so oft schreiben. Es sieht nicht gut bei uns aus. Wir haben mit Schulden angefangen und sind immer tiefer hineingekommen. Gott weiß es, wie es enden soll!« Sie trocknete die Augen, die voll Tränen standen, nickte mir noch einmal zu und folgte dann ihrem Manne, der bereits mit einem gefüllten Bierseidel in der Tür des Wartesaales stand und ihr winkte.
Als ich meine Heimatstadt erreicht hatte, verfehlte ich nicht, über Herrn Maaßen Erkundigungen einzuziehen, und bald erfuhr ich, daß die kleine Frau ganz recht gehabt, als sie fagte: »Gott weiß, wie es enden soll!« Ihr Mann stand vor dem Bankerott. Sein Vater, ein ehemals wohlhabender Bauer, war, nachdem der älteste Sohn nach Herzenslust Geld verschwendet, in bedrängten Verhältnissen gestorben, und Theodor, welcher den Hof übernommen und noch vergrößert hatte, schien von dem Werte des Geldes keinen Begriff zu haben. Leichtsinnig, genußsüchtig, keinem Menschen direkt etwas zu leide tuend, war er wirklich das, was er selbst und die Welt einen »guten Kerl« nannte – ein »guter Kerl«, der es selbst verschuldet, wenn er mit Frau und zwei kleinen Kindern den Hof verlassen und ins Elend ziehen mußte.
Das Weihnachtsfest ging vorüber. Nachdem ich mit mir zu Rate gegangen, ob ich Kaspar meine Begegnung mit seinem Bruder mitteilen sollte, entschloß ich mich endlich dazu und berichtete ihm ausführlich von den schlechten Verhältnissen desselben. Wenige Tage, nachdem ich meinen Brief abgesandt, traute ich meinen Augen kaum, denn mein Freund Kaspar trat zu mir ins Zimmer.
»Weshalb kommt Ihr her?« rief ich erstaunt.
»Das ist doch ganz natürlich!« lautete seine ruhige Gegenrede. »Wenn es meinem Bruder schlecht geht, muß ich kommen, um ihm zu helfen!«
»Könnt Ihr das denn?« fragte ich.
Er zog eine Brieftasche hervor. »Ich bin mit meinem alten Meister in ein Kompaniegeschäft getreten und habe durch eine große Bestellung guten Verdienst gehabt.«
»Und Euer sauer verdientes Geld wollt Ihr Eurem Bruder opfern, der Euch um Euer Erbteil gebracht?« Kaspar sah mich mit seinem stillen Blicke an.
»Unser Herr Jesus hat gesagt, wir sollten unserem Bruder siebenzig mal siebenmal vergeben, und ich vergebe meinem Bruder doch erst einmal!«
Ich schämte mich meiner Frage, und er fuhr ruhig fort: »Ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie zu fragen, wie ich ihm am besten helfen kann. Von solchen Geschäften verstehe ich nichts. Ich konnte niemals gut lernen!« setzte er bekümmert hinzu.
Da konnte ich ihm denn einen tüchtigen Advokaten nennen, von dem ich wußte, daß er in Maaßens Gegend viele Verbindungen hatte, und Kaspar verschwand so schnell wie er gekommen. Als ich dem Davonschreitenden nachblickte, fiel es mir auf, wie stattlich und wohlgekleidet er aussah; welch ein Unterschied mit dem Handwerksburschen von damals! – Nach etwa zwei Wochen kam er wieder; aber er sah nicht mehr so froh aus wie das erstemal. Auf meine Frage, ob er Gutes hätte stiften können, nickte er: »Das wohl, Herr. Der Advokat ist ein guter Mann, und da der Konkurs noch nicht erklärt war, konnte ich manches von den Gläubigern erreichen.«
»Und Eure Geschwister?«
Kaspar lächelte. »Sie waren froh und dankbar; ich hoffe, Theodor wird nun besser wirtschaften; er hat's mir unter Tränen gelobt, und die Kathrin will auf ihn achten. Ich sollte länger bei ihnen bleiben, aber mich treibt's an die Arbeit!«
»Jetzt, wo Ihr einmal hier seid, solltet Ihr die Heimat nicht sogleich wieder verlassen!« meinte ich, aber Kaspar schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wie es kommt,« sagte er nachdenklich; »aber hier in Holstein habe ich geradesoviel Heimweh wie am Rhein. Dort meinte ich, ich hätte Sehnsucht hierher, und nun verlangt mich wieder nach den Bergen!«
»Ihr sehnt Euch vielleicht nach der katholischen Kirche?« forschte ich, aber Kaspar blickte mich offen an.
»Mein Herr! Ich hab's noch einmal mit der Bibel versucht, und nun ist sie mir solch Licht auf meinem Wege geworden, daß ich nicht verstehe, wie ich dazu kam, katholisch werden zu wollen. Ich war ein blinder Tor, als ich mir das vornahm, und jeden Abend bitte ich den Heiland, mir meine Sünde zu verzeihen!«
»Gott sei Dank!« rief ich. Mir war, als sei ein Stein von meinem Herzen genommen, und Kaspar sah mich freundlich an.
»Ja, Herr; Sie freuen sich; das kann ich mir gut denken, und ich bin auch froh. Ich habe mir das katholische Wesen jetzt ganz genau angesehen; es mag für viele bequem und gut sein, obgleich sich die meisten bei ihrem Beten nicht viel denken, und nur das beichten, was ihnen gut scheint, aber für uns Evangelische ist die katholische Religion nun ganz und gar nichts. Daß man glauben soll, der Papst wäre die Hauptperson auf Erden, und fast ebenso heilig wie Christus, das ist mir wie Gotteslästerung vorgekommen. Und dann alle die Heiligen, die man noch besonders anrufen soll! Nein, Herr; ich habe es dem Kaplan das letztemal, als er mich besuchte, deutlich zu verstehen gegeben, daß mir mein gekreuzigter Heiland tausendmal teurer ist als alle die Heiligen, und seit der Zeit ist er gar bös auf mich und hat übles von mir geredet. Aber was tut es, wenn es mir auch schadet? Ich weiß jetzt, an wen ich mich zu halten habe!«
Kaspar hatte sehr eifrig gesprochen, und seine Wangen röteten sich vor Eifer, während ich ihm freudig zuhörte. Lange und ernsthaft sprachen wir dann noch über diesen Gegenstand, und ich erkannte mit Bewunderung, wie bibelfest und sicher Kaspar geworden, wie er in der Heiligen Schrift geforscht und Wasser aus dem ewigen Brunnen geschöpft hatte.
Zwei Tage weilte er bei mir; dann litt es ihn nicht mehr in Holstein, er wollte heim zu seiner Arbeit. »Ich muß wieder Geld verdienen,« meinte er; »der Theodor könnte doch wieder etwas brauchen, und ich habe gerade jetzt gute Kundschaft: einen Grafen, der sein altes Schloß mit altmodischem Geräte versehen läßt. Mein alter Meister wird mit den Zeichnungen allein nicht fertig.«
Er ging, und ich sollte lange nichts von ihm hören. Er war kein guter Briefschreiber, und meine Freunde, welche mit ihm in derselben Stadt wohnten, hatten sich auf eine große Reise begeben. Aber ich war ruhig geworden über Kaspars Lebensschicksale; der Herr hatte ihn so sichtbarlich geführt, daß ich wußte, er würde ihn auch fernerhin nicht aus seiner starken Hand lassen.
Theodor Maaßen erging es noch immer nicht besonders, obgleich des Bruders Hilfe ihren starken Eindruck nicht verfehlt hatte. Aber wer einmal sich dem Lebensgenuß ergeben, kommt nicht so leicht auf bessere Wege.
Endlich – es waren drittehalb Jahre vergangen – führte mich eine Geschäftsreise im Frühsommer wieder in das Rheinland und in die kleine Gebirgsstadt. Meine Freunde waren zurückgekehrt und empfingen mich in alter Gastlichkeit. Wir hatten uns so mancherlei zu erzählen, daß ich keine Gelegenheit fand, nach Kaspar zu fragen; aber als der schöne Maitag sich seinem Ende zuneigte, litt es mich nicht mehr im Hause; eilig ging ich durch die winkeligen Straßen zu Kaspars Werkstatt.
Ich weiß nicht, wie es kam, noch niemals hatte ich solches Verlangen empfunden, in die guten Augen meines Freundes zu blicken, und so trat ich fast atemlos vom raschen Gehen in das freundlich aussehende Haus, an dessen Haustür neben des alten Meisters Namen auch der von Kaspar in großen Buchstaben prangte. Die Werkstatt, deren Tür ich öffnete, stand leer; nur ein halbwüchsiger Bursche kehrte die Hobelspäne heraus, und auf meine Frage nach Kaspar wies er über den Hofplatz.
»Der junge Meister liegt im Hinterhaus und darf eigentlich nicht gestört werden!«
»Er liegt?« wiederholte ich betroffen. »Ist er krank?«
Der Bursche sah mich verwundert an. »Wissen Sie denn das nicht, Herr? Es sind ja schon sechs Wochen her, seitdem er das Kind rettete. Der Doktor meint, daß der Meister sich damals innerlich erkältet habe.«
Ich hörte nicht mehr, was er sonst sprach; schon war ich an ihm vorbeigeschritten und stand bald in Kaspars Zimmer. Es war ein kleiner, freundlicher Raum. Die Abendsonne schien hinein, und im Fenster standen blühende Blumen. Und unter ihnen lag mein Freund Kaspar, mit stillem Lächeln mir die schmale Hand entgegenstreckend.
»Ich wußte wohl, daß Sie kommen würden!« sagte er leise. Erschüttert, sprachlos stand ich neben seinem Lager, und Kaspar sah mir meine Bewegung an.
»Sie wundern sich wohl, daß ich so elend auf dem Rücken liege? Aber ich konnte doch das kleine Mädchen, das vor meinen Augen in den Fluß fiel, nicht ertrinken lassen. Ich war damals rasch gegangen, – fühlte mich schon lange nicht mehr –« langsam und in Absätzen hatte Kaspar gesprochen, jetzt hielt er erschöpft inne.
»Gott möge Euch wieder gesund werden lassen!« rief ich schmerzlich. Aber er schüttelte den Kopf.
»Gott weiß, was mir gut tut!« flüsterte er. »Ich habe immer Heimweh gehabt, überall wo ich war; aber jetzt weiß ich, daß es aufhören wird, denn ich reise nach Hause!« Seine Augen strahlten in einem fast überirdischen Lichte, als er mit der Hand nach oben deutete.
Es war mir vergönnt, noch einige Tage mit Kaspar zusammen zu sein und ihm stundenlang aus den Evangelien vorlesen zu dürfen. Er ward nicht müde, die Worte unseres Erlösers wieder und wieder zu hören. »Gott weiß doch wunderbarlich mit den Menschenherzen umzugehen!« sagte er einmal. »Erst brachte er mich auf die katholische Religion; das war nur, damit ich die Bibel kennenlernen sollte, und nun hat er mich so zu sich gezogen, daß ich freudig sterbe.«
Ach, und die Sterbestunde kam bald. Es war ein heißer Junitag gewesen. Er hatte ihn bewußtlos verbracht, als aber die Strahlen der scheidenden Sonne auf sein Bett fielen, da öffnete der Sterbende angstvoll die Augen. »Beten!« stammelten seine Lippen, und mit stockender Stimme sagte ich den herrlichen Vers Paul Gerhardts:
»Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir!
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür!
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!«
Ich weiß nicht, ob der Sterbende diese Menschenworte noch vernommen – vielleicht haben andere himmlische Laute an sein Ohr geklungen, denn als ich geendet, war jede Spur von Angst aus seinem Antlitz verschwunden, und es trug einen Ausdruck strahlender Freude.
Er war nach Hause gekommen. – Neben dem stattlichen katholischen Kirchhof liegt ein kleiner, stiller Winkel; dort werden die Evangelischen begraben, und dort ruht auch mein Freund Kaspar. Als ich im vorigen Jahre einen Kranz auf sein schmuckloses Grab legte, stand ein großer Mann vor demselben – es war Theodor Maaßen.
»Ich konnte es nicht mehr aushalten,« sagte er mit zitternder Stimme, »ich mußte das Grab meines Bruders besuchen. Er hat mich zu einem ordentlichen Menschen gemacht, und ich bitte Gott täglich, daß mir Kaspars treue Arbeit und sein Tod zum Beispiel dienen!«
Ja, mein Freund Kaspar kann vielen, uns allen zum Beispiel dienen. Möchten wir alle wie er das rechte Heimweh haben, um endlich nach Hause zu kommen. Autor: Charlotte Niese